...And You Will Know Us By The Trail Of Dead - Lost songs

Superball / EMI
VÖ: 19.10.2012
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Alle Hände voll

Wer das Vergnügen hatte, anwesend zu sein, als ...And You Will Know Us By The Trail Of Dead die Aufnahmen zu ihrem mittlerweile achten Album für einen singulären Liveauftritt unterbrachen, der konnte schon etwas ahnen. Beziehungsweise: Er bekam es mitten in die Kauleiste serviert. Anlässlich der Plattenaufnahmen während eines mutmaßlich ebenso verregneten wie verschwitzten, jedenfalls patschnassen Frühlings in Hannover waren Conrad Keely, Jason Reece und die (sorry, immer noch) zwei Neuen da nämlich derart in Bollerlaune, dass es "Mistakes & regrets", "Caterwaul", "Ounce of prevention" und "A perfect teenhood" in Kopfnicker-Allianz zu bestaunen gab. Neue Songs ließen sich hingegen an einem Finger abzählen. Mit der Veröffentlichung von "Lost songs" steht nun fest: Hätte es die auch noch obendrauf gegeben, wären nicht nur brummende Schädel, sondern geplatze Köpfe das Ergebnis gewesen.

Der Grund für all die Zerstörungswut ist allerdings weniger eskapistisches Pogo-Wrestling, sondern - ganz klassisch - all der Müll, der außerhalb der sicheren Konzertenklave nach wie vor Nerven schindet, wenn nicht Leben kostet. Die Erkenntnis, dass Indiehausen während der zurückliegenden Jahrzehnte eher im Tarnkappenmodus über das Weltgeschehen segelte, forderte dann eben eine Platte, die von vorne bis hinten knallt. Ein politisches Album, mit lauter Fingern in der Wunde und vor dem Gesicht, ebenso vielen mahnenden Zeige- wie ausgestreckten Mittelfingern: Wer solch einen Gestus bereits "old school" nennt, dem fehlen spätestens bei Songs wie "Pinhole cameras", den flirrend konturlosen Geräuschwänden von "Open doors" oder den Noise-Metal-Sechzehnteln von "Opera obscura" die passenden Worte.

Auch daran liegt es, dass "Lost songs" viel mehr Postcore ist als all seine Vorgänger - selbstverständlich durch genau den Filter gedreht, der den musikalischen Stoizismus von Washington, DC eher als zusätzlichen Schlagstock am Dickrock-Nietengürtel trägt. Um das zu erreichen, mussten ...And You Will Know Us By The Trail Of Dead einiges aus ihrer Musik räumen, was den Weg versperrte. Sie gingen ran, fürwahr: Kein einziger Klavierakkord, kein Streicher-Einsatz, keinerlei Rock-Oper-Gestus stört die Tour de Force. Stattdessen: zwei bärbeißige Gitarren, Highspeed-Trommelwirbel en masse, eine Snare, die, egal, wo sie sitzt, ausschließlich von Kopfnicken begleitet wird - und natürlich unvermeidliche melancholische Einbrüche und Melodien.

Doch auch diese kühlen kaum das Mütchen, sondern behalten stets ihre Grundaufgeregtheit. So die Indie-Hymnik von "Awestruck" und des Titelsongs. Oder der Folkpop von "Time and again", der die Platte seltsam versöhnlich, genau dadurch aber beinahe erschütternd rätselhaft beschließt. Das mollende Riff von "Flower card game" beschert hingegen zunächst "Up to infinity" nach vier Minuten mehrkehliger Spucke-Dusche ein beinahe atmosphärisches Outro. Schließlich kehrt es aber als magensaurer Sad Bastard Rock wieder, den ...And You Will Know Us By The Trail Of Dead durch sämtliche Gemütszustände von depressiv bis "Ja, leckt mich doch alle" durchexerzieren.

All das heißt dann natürlich auch: Auftritt Jason Reece. Dass der gute Mann eine der großen, aggressiven Röhren der Rockgeschichte besitzt, ist seit Jahr und Tag ebenso klar wie die Tatsache, dass sie bislang zum Wohle der Songs nur die zweite Geige zu spielen hatte. Auf "Lost songs" bekommt sie zwar auch nicht wirklich mehr Strophen spendiert als auf den Vorgängern - ganze zwei aus zwölf. Allerdings brüllt sich Reece beständig als die Songs nochmals beschleunigender Sidekick durch all die Hochgeschwindigkeit, der Kollege Keely zwar das Fell über die Ohren ziehen, aber gewiss nicht ansprechend den Po versohlen kann. Doch auch ihm sei Dank ist "Lost songs" ein wahres Schurkenstück, das jegliches Stirnrunzeln wie ein wildgewordener Derwisch auf Breitbandpuschen überfährt. Kein Problem, denn da sich der Zustand der Welt fortgesetzt hyperdesaströs präsentiert, passen auch die approbierten Waffen nach wie vor wie angegossen.

"Lost songs" meint also nicht nur die schmerzliche Verbeugung vor all den geschundenen Seelen da draußen, sondern auch die Reminiszenz an ein Riff- und Melodien-Massaker, das die zwei (plus zwei) Texaner in ihrer Bandgeschichte bereits mehrfach anprobiert haben. Und da es von ersteren nach wie vor viel zu viele gibt, von zweiteren hingegen immer noch zu wenige, widmen sie das Killer-Uptempo von "Up to infinity" kurzentschlossen sowohl dem Bürgerkrieg in Syrien als auch Pussy Riot. Auch das steht für ein wildes Umsichschlagen, dessen Ethos "Lost songs" perfekt transportiert. Recht haben sie: Diese Art der Notwehr trifft schon stets den oder die Richtigen. Und wenn die Songs schon derart vor Energie platzen, weshalb sollte es nicht auch ihr Fingertainment?

(Tobias Hinrichs)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Up to infinity
  • Opera obscura
  • Flower card games
  • A place to rest
  • Bright young things

Tracklist

  1. Open doors
  2. Pinhole cameras
  3. Up to infinity
  4. Opera obscura
  5. Lost songs
  6. Flower card games
  7. A place to rest
  8. Heart of wires
  9. Catatonic
  10. Awestruck
  11. Bright young things
  12. Time and again
Gesamtspielzeit: 45:49 min

Im Forum kommentieren

Affengitarre

2023-10-05 20:16:31

Ja, der ist ein echtes Brett. Ich dachte ja längere Zeit, dass das Album eine Sanmlung von B-Seiten ist, irgendwie klang der Titel „Lost Songs“ danach. Mittlerweile bin ich da schlauer. :D

Manicmax

2023-10-05 18:43:23

Catatonic ist richtig geil! Den Song hatte ich bisher komplett übersehen...

Hierkannmanparken

2023-09-18 18:12:38

Mit diesem Album verhält es sich ganz merkwürdig. Ich mag es sehr, kann mir aber bis auf Open Doors keinen Song davon merken. Ich kann es alle paar Monate auflegen und werde überrascht von für mich "neuem" Material.

Thanksalot

2019-11-28 21:51:36

"Open Doors" ist für mich der beste Song. Großartig, wie der nach dem Intro losgaloppiert.

Ja, absolut. Wenn ich noch unbedingt ein Highlight benennen müsste: "A Place To Rest". "Heart Of Wires" ist der einzige Song, der mich wirklich nicht mitreißt, ansonsten durch die Bank weg ein sehr gutes Album.
Ich meine mich zu erinnern, diese Platte hier auf der Startseite gesehen zu haben und dachte mir: "Ach ja, mit denen musst du dich auch mal beschäftigen." Und so kam es dann auch. War eine schöne Entdeckung.
Da war übrigens der Produzent des Debüts am Werk. Man wusste also wahrscheinlich genau, wohin man wollte.

The MACHINA of God

2019-11-27 19:06:54

Den Sound finde ich hier aber auch schwächer als auf "Tao" und "IX", allerdings besser noch als auf der "Century".

Seh ich genauso.

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