Erasure - Tomorrow's world
Mute / GoodToGoVÖ: 30.09.2011
Die Löcher aus dem Käse
Nicht erst seit George Orwells Roman "1984" macht sich der Mensch Gedanken, wie die Zukunft aussehen könnte. Bei Orwell war es die düstere Vision eines totalitären Überwachungsstaates - die heute bereits in einigen Punkten Realität geworden ist. Ähnlich niederschmetternd ist H.G. Wells' "Die Zeitmaschine", das die Unterdrückung von so genannten Untermenschen durch die herrschende Klasse zeichnet. Es existieren wohl wenige Zukunftsvisionen, die positiv ausfallen, die ein sonniges, freudiges Bild sehen. Meistens ist es doch der Kulturverfall, um den es sich dreht, einhergehend mit technischen Innovationen - oder das, was der Mensch dafür hält, weil die Werbeindustrie es immer wieder schafft, Bedürfnisse zu kreieren, die gar keine sind. Mit anderen Worten: Im Grunde wird alles den Bach runter gehen. Womit wir auch schon beim 14. Studioalbum von Erasure wären.
Der Autor freut sich jedes Mal, wenn ein neues Album von Erasure veröffentlicht wird. Leider blieb in den letzten zehn Jahren selten etwas von dieser Vorfreude übrig. Bei "Tomorrow's world" ist es nicht anders. Man kann sogar vom eventuell schlechtesten Album von Erasure sprechen, Kopf an Kopf mit "Other people's songs" aus 2003. Die Malaise dieser Platte beginnt gleich mit "Be with you", einem Song, der wie eine billiger Bohlen-Remix eines Schlagers von Tony Christie vor sich hin wumpert: gefühlte Elektro-Polonäse. Hier fliegen gleich die Löcher aus dem Käse. Und so nimmt das Unglück seinen Lauf. Produziert hat diese Ansammlung an betrüblichen Plastiksounds Frankmusik, der sich in den letzten Jahren einen Namen als Remixer von Lady GaGa, Mika oder der Pet Shop Boys gemacht hat. Wenn sich Clarke, Bell und Produzent Frank so die Zukunft der Musik vorstellen - es muss ja nicht gleich die der Welt sein -, na dann gute Nacht. Denn dann hätte David Guetta vollkommen Recht mit dem neuerlichen Ibiza-Eurotrash, den er in den letzten Jahren verzapft und mit dem er uns den Pop madig gemacht hat. Wollen wir das?
Auf "Tomorrow's world" fehlt es einfach an guten Songs. Vielleicht sind sie ja da, doch dann verschwinden sie hinter einem leblos glattgebügeltem Utz-Utz-Disco-Sound, der sich selbst für modern hält, aber einfach nur reaktionär und verbraucht ist. Wohin sind die großen Gefühle? Was ist mit Bells erhabenem Pathos in der Stimme passiert? Was mit dem allumfassenden Drama früherer großer Songs? Wegproduziert, einfach so. Klar, Erasure waren nie mehr als eine Synthesizer-Popband, die trotz allem in ihren besten Momenten einen Track für die Ewigkeit parat hatte. Sie waren nie große Kunst wie die Pet Shop Boys. Aber das Fähnchen so in den Wind zeitgenössisch lebloser Charts-Musik zu drehen, das kommt fast einem Bankrott gleich.
Doch zum Glück gibt es auch in diesem ganzen Gewurstel mit dem Uptempo-Stampfer "I lose myself", dem zwar biederen, dennoch netten Elektropopper "You've got to save me right now" und insbesondere dem finalen Drama "Just when I thought it was ending" drei Ausnahmen, die zumindest interessant sind. Wohl keine Hits, keine großen Popsongs für die Ewigkeit, nein. Aber im ergleich zu den anderen Ärgernissen auf "Tomorrow's world" tatsächlich so etwas wie Höhepunkte. Dass die Zukunft schrecklich wird, das ahnten wir ja schon. Aber dass alles eventuell noch viel schlimmer werden wird, als Wells, Orwell und die größten Kulturpessimisten prophezeit haben, hätten wir kaum zu glauben gewagt. Bell und Clarke aber arbeiten mit "Tomorrow's world" am weiteren Verfall des Pop und damit unserer Kultur kräftig mit. Früher war alles besser.
Highlights & Tracklist
Highlights
- You've got to save me right now
- I lose myself
- Just when I thought it was ending
Tracklist
- Be with you
- Fill us with fire
- What will I say when you're gone
- You've got to say me right now
- A whole lotta love run riot
- When I start to (Break it all down)
- I lose myself
- Then I go twisting
- Just when I thought it was ending
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