The Knife - Tomorrow, in a year

Rabid / Cooperative / Universal
VÖ: 05.03.2010
Unsere Bewertung: 5/10
5/10
Eure Ø-Bewertung: 5/10
5/10

Die darwinistische Abendunterhaltung

200 Jahre sind ein Tag. Zumindest im Universum von Charles Darwin. Dieser lieferte 2009 anlässlich seines Geburtstages und des 150. Jahrestages seines Hauptwerkes "Die Entstehung der Arten" jede Menge Stoff für Musikalisches und Kulturelles. Etwa für das pittoreske Debüt der US-Folker The Low Anthem oder die dänische Performance-Theatergruppe Hotel Pro Forma, die eine ganze Darwin-Oper ersann, für die The Knife den Kompositionsauftrag erhielten. Olaf Dreijer verabschiedete sich alsbald zu Feldaufnahmen ins Amazonasgebiet, um das evolutionäre Werk mit vielfältigen Naturgeräuschen zu unterfüttern. Und weil alles eine gänzlich neue Erfahrung werden sollte, verstärkte sich das Duo durch den US-Elektroniker Mt. Sims und die Britin Janine Rostron alias Planningtorock.

Flugs noch drei Vokalisten aus den Bereichen Klassik, Schauspiel und Pop engagiert - und wie die Rahmenbedingungen erahnen lassen, ist das Resultat weder herkömmlich noch leicht bekömmlich. Was nach dem schaurig abgedunkelten "Silent shout" und Karin Dreijer Anderssons schockgefrostetem "Fever Ray"-Ausflug auch nicht unbedingt zu erwarten war. Doch was die Schweden einem hier unter dem Deckmantel von Anspruch und Theaterkunst vorsetzen, geht zuweilen fast auf keine Kuhhaut. Nicht einmal auf eine genmanipulierte. Von Assoziationen wie Synthpop oder Electroclash verabschiedet man sich wenigstens beim ersten Teil von "Tomorrow, in a year" jedenfalls lieber schnell.

Und wird stattdessen je nach musikalischem Nervenkostüm be- oder entgeisterter Zeuge minimalelektronischer Improvisationen, zu denen in der Ferne blecherne Percussions scheppern, gepeinigte Röhrenverstärker auf dem letzten Loch pfeifen und sich die klassisch ausgebildete Dänin Kristina Wahlin stellenweise um Kopf und Kragen sopranisiert. Vor allem "Variation of birds" lässt mit in Reihe geschaltetem Transistorengeschrei und dem Chor der Geister fast Erschreckendes auf den Hörer los. Immerhin: trotz seiner offensiven Unmusikalität noch das greifbarste und nach gewisser Eingewöhnungsphase sogar faszinierendste Stück vom ersten Aufzug dieser bizarren Soundinstallation. Obwohl einen dabei der merkwürdige Drang beschleicht, die Tagebücher des Adrian Mole auf Türklingel und Hauskatze nachzuspielen, wenn das Die-Wände-Hochgehen langsam zu anstrengend wird.

Doch es geht auch anders: Spätestens bei "Colouring of pigeons" auf dem zweiten Tonträger ist "Tomorrow, in a year" plötzlich ganz auf der Höhe. Ein Groove schält sich allmählich aus dem verhaltenen Beginn, Wahlin stellt ihre Stimme ganz in den Dienst der Melodie, ein Cello seufzt, und elektronisches Geklingel hält das prächtige Gebilde trotz seiner elf Minuten fest zusammen. Sogar Dreijer Anderson kommt erstmals erkennbar zu Wort, und am Ende fassen sich alle bei den Händen und singen den Song gemeinsam. Zauberhaft. Das pumpende "Seeds" wirkt in diesem Umfeld dann fast wie ein karnevalesker Techno-Track, während "The height of summer" kurz vor Schluss die "Heartbeats"-Rhythmusspur durch die Hintertür schmuggelt. Willkommene Haltegriffe auf einem Doppelalbum mit viel subtiler Brutalität, das ohne den visuellen Part natürlich nur das halbe Vergnügen sein kann. Am Schluss steht aber vor allem ein Stoßseufzer: Oh my God, Charlie Darwin. Diese Evolution konnte nicht einmal er vorhersehen.

(Thomas Pilgrim)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Variation of birds
  • Colouring of pigeons
  • The height of summer

Tracklist

  • CD 1
    1. Intro
    2. Epochs
    3. Geology
    4. Upheaved
    5. Minerals
    6. Ebb tide explorer
    7. Variation of birds
    8. Letter to Henslow
    9. Schoal swarm orchestra
  • CD 2
    1. Annie's box
    2. Tumult
    3. Colouring of pigeons
    4. Seeds
    5. Tomorrow in a year
    6. The height of summer
    7. Annie's box (Alt. Vocal)
Gesamtspielzeit: 92:57 min

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