Jim O'Rourke - The visitor

Drag City / Rough Trade
VÖ: 28.08.2009
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Der Rest ist Schweigen

In Jim O'Rourkes Kopf muss es zugehen wie auf einem Jahrmarkt. Den Kontakt zur feedbackenden und knöpfchendrehenden Avantgarde hat er nie gänzlich abgebrochen. Und doch zeichneten sich seine bisherigen Werke ebenso durch Prog- und 70ies-Rock-Dekonstruktionen, Folk-Wasserfälle oder Jazz-Kaskaden aus. Man mochte meinen: ein Mann, der nicht weiß, was er will - und es trotzdem macht. Nachdem die Solopfade zum Einstieg bei Sonic Youth und zur Kollaboration mit Jeff Tweedy bei Loose Fur bereits bedenklich zuwucherten, will "The visitor" mit einem Schlag beweisen, dass all die Stimmen längst noch nicht verstummt sind. Hier will jemand verlorene Jahre aufholen. Und wählt die möglichst unbequeme Form, um Kontakt zu sich selbst aufzunehmen.

"The visitor" - das Album, der "Song", die Idee - spinnt sich derart dicht in O'Rourkes Vita ein, dass seine Biographie beinahe zu einem weiteren, stets mitlaufenden Arrangement wird. O'Rourke komponiert gewohnt dicht, in Momenten beinahe geschmäcklerisch kultiviert und dann doch wieder ausschweifend. Zwischen einen einzigen Strom aus Folk, Elektronik, Jazz und eher zart angedachter Avantgarde schleichen sich so ziemlich alle stilistischen Feinheiten der letzten fünfzehn Jahrzehnte, zudem ein Instrumentenfundus, der ganze Musikschulen zu Tumbleweed-Arenen degradiert. Flackern die ersten Gitarrenpickings eher, als dass sie eine konsistente Harmoniefolge bilden, dominieren bald schon Klavier, Space-Flächen und Salsa-Shaker zu einem Dreampop-Jazz-Hybriden. Der verjüngt sich irgendwann immer mehr, verliert Ballast und Boden unter den Füßen, bildet wieder einzelne Stränge aus, schießt in verschiedene Richtungen davon - um sich nach kurzem Aus- und wieder Eintrudeln zum nächsten vollwertigen Klangbild zu verdichten.

Immer wieder feiern diese so perfide agierenden 38 Minuten derartige Erweckungserlebnisse. Mit Banjo-Takten zu knöchernem Schlagzeug, kurz vorm Loop zurückgeschraubten Beats, Arab-Strap-Dröhnen zu besoffenen Slides oder Soulfedern am Kinn wird die Aufmerksamkeit des Hörers schlagartig aus dem Alltag gerissen. Ebenso häufig verpasst man aber leider auch das Wesentliche, wenn man nicht ganz genau aufpasst. Nämlich die äußerst feine und sorgsame Art und Weise, wie diese disparaten, melodischen Eindeutigkeiten ineinander und aufeinander zu arrangiert werden.

Die Größe von "The visitor" zeigt sich in genau diesen Brückenschlägen. Hier ergeben sich flimmernde, spannungsgeladene Übergänge, die jeweils eine eigene Analyse wert wären und jeden Applaus verdienen, der nicht ohnehin bereits (sorry) zwischen Minute 2 und 4, 11 und 14, 18 und 23 sowie 30 und 35 herausgeklatscht worden ist. Eben diese Meisterschaft kann gar nicht anders, als schwarze Löcher zu bilden, in die der Hörer immer wieder zurücktrudelt. Die eigentliche Stärke von "The visitor" besteht nicht nur im Dazwischen, sie versteckt sich hier auch. An genau dieser entscheidenden Stelle bleibt der Marktschreier stumm. Man wartet noch einen Moment, dreht sich dann ab und geht. O'Rourke bleibt zurück, macht weiter, was er will. Auch wenn er nicht weiß, was das eigentlich ist, so hört man ihm doch noch von Ferne genussvoll beim Schweigen zu.

(Tobias Hinrichs)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • The visitor

Tracklist

  1. The visitor
Gesamtspielzeit: 38:04 min

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