Richard Swift - The Atlantic Ocean

Secretly Canadian / Cooperative / Universal
VÖ: 08.05.2009
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Synthie und Aroma

Liebe Synästhetiker, wir wissen, dass Ihr es nicht leicht habt. Ihr könnt nicht mal eben Pete Doherty hören, weil Ihr dann gleich eine Mischung aus Nikotin, Erbrochenem und leichenblasser Weißwurst in der Nase habt. Seit der Gute sich aus Seriositätsgründen Peter nennt, ist es ganz besonders schlimm geworden, das R schmeckt so penetrant nach billigem Wodka. Ihr könnt auch nicht einfach mal Rufus Wainwright hören, weil dann die ganze Zeit ein pompöser Kronleuchter vor Eurem inneren Auge baumelt und theatralisch schaukelnd Vanille-Aroma verströmt. Wir erwähnen jetzt also lieber nicht, dass der Tausendsassa Richard Swift (Musiker, Produzent, Filmemacher, Radiomoderator, Blogger, Familienvater) aus Oregon bereits 9 EPs und fast genau so viele Alben veröffentlicht hat, "The Atlantic Ocean" aber erst sein viertes reguläres ist. Tausend riecht nämlich nach Banknoten, die schon ziemlich lange im Umlauf sind, Oregon schmeckt nach Oregano, von den Rundungen der Neun wird Euch schwindelig, und hinter der Vier lauert ein Quadrat aus aufeinandergestapelten leeren Pizzakartons.

"The Atlantic Ocean" hingegen ist ein wahres Fest für die Sinne. Vorausgesetzt, man mag leuchtend bunte Farben und wird bei dem Gedanken an eine klassische Frühsiebziger-Produktion nicht von synästhetischen Mächten in taubenblaue Cord-Schlaghosen gezwängt. Swift ist ein Freund klarer Songstrukturen und klarer Ansagen: "I'm part of the scene / Suit jacket and jeans / I got the right LPs / I got the Lou Reed / And all the Blondie you'll ever need." Er hat auch all the Beatles you'll ever need, das ist nicht zu überhören. Und dann besitzt er noch eine Zeitmaschine. Genauer gesagt: Einen Synthesizer, der die Frühsiebziger-Produktion mit ein paar beherzten Handgriffen einige Jahre weiter in Richtung Achtziger schiebt. Swift tut dann gerne so, als sei der Synthie auch nichts weiter, als ein Klavier, das eben ein bisschen nach Plastik und Marshmallows klingt. Das könnte natürlich gewaltig in die taubenblaue Cord-Schlaghose gehen, macht stattdessen aber einen Heidenspaß, vor allem bei "Hallelujah, goodnight!".

In erster Linie ist Richard Swift ein ganz hervorragender Songwriter der alten Schule - mit Harry Nilsson, Randy Newman und Elton John als Banknachbarn, rhythmisch federndem Piano und clever ausgetüftelten Melodien, die man trotzdem beim ersten Hören direkt mitsummen kann. Dabei wurde Swift ausgerechnet im einzigen Jahr der Siebziger geboren, in dem Elton John kein Album veröffentlichte: 1977. Dafür kommt er, wie Randy Newman, aus einer künstlerisch begabten Familie, deren Stammbaum bis ins siebzehnte Jahrhundert, zum berühmten Literaten Jonathan Swift, zurückreicht. Wobei es eigentlich viel interessanter ist, dass kein Geringerer als Jeff Tweedy den jungen Swift gewissermaßen adoptiert hat. Erst durfte er mit auf Tour, dann wurde ihm The Wilco Loft für Aufnahmen zur Verfügung gestellt und schließlich auch noch Pat Sansone ausgeliehen. Der zupft auf der von Mark "Valerie" Ronson produzierten "Ballad of old what's his name" den Bass, während Sean Lennon Gitarre spielt und Ryan Adams Backing Vocals singt. Ja, tatsächlich.

Der eigentliche Clou an "The Atlantic Ocean" ist aber, dass es immer besser wird, je weiter man rausschwimmt - und es fängt ja schon super an. So geht's dann auch weiter: "The first time" durchstreift zunächst Country-Gefilde, nimmt dann ganz plötzlich die Abkürzung zum Glam-Rock, steigt genauso überraschend in einen Heißluftballon mit fernöstlichen Streichern und endet in einem imposanten Glockenspiel-Inferno. "Bat coma Motown" hat mit seiner beschwingten Ragtime-Posaune und dem lässigen Banjo einen äußerst entspannenden Effekt und passt damit prima zu der Hymne für Relaxation-Guru Milton Feher, die den naheliegenden Titel "A song for Milton Feher" trägt. "The end of an age" ist, diese Floskel muss jetzt echt mal erlaubt sein, eine Bilderbuch-Schunkelballade und vielleicht das eindrucksvollste Beispiel für Swifts großes Talent, zeitlos schöne Melodien zu komponieren. Das Beste kommt aber, und auch diese Floskel gönnen wir uns jetzt noch, zum Schluss: Der Soul-Knaller "Lady luck", mit erstklassigem Falsettgesang und einem ausgesprochen potenten Bass. Ob Swift wohl auch Synästhetiker ist? Man weiß es nicht. Aber er hat auf jeden Fall einen verdammt guten Riecher.

(Ina Simone Mautz)

Bei Amazon bestellen / Preis prüfen für CD, Vinyl und Download
Bei JPC bestellen / Preis prüfen für CD und Vinyl

Highlights & Tracklist

Highlights

  • Hallelujah, goodnight!
  • The first time
  • The end of an age
  • Lady luck

Tracklist

  1. The Atlantic Ocean
  2. The original thought
  3. Ballad of old what's his name
  4. R.I.P.
  5. Already gone
  6. Hallelujah, goodnight!
  7. The first time
  8. Bat coma Motown
  9. The end of an age
  10. A song for Milton Feher
  11. Lady luck
Gesamtspielzeit: 40:34 min

Im Forum kommentieren

Dennis

2018-07-03 18:31:20

https://pitchfork.com/news/richard-swift-dead-at-41/

Sehr traurig. Herausragend war vor allem seine Arbeit mit Jurado. Ein toller Musiker und Produzent.

Ina Simone Mautz

2009-05-05 10:46:31

Rezi ist beim kommenden Update dabei, aber schon jetzt möchte ich Euch Richard Swift ans Herz legen. Frühsiebziger-Pianopop, tolle Melodien, dezente Synthiespielereien. Wer Harry Nilsson, Randy Newman, Ben Folds oder den frühen Elton John mag, sollte sich "The Atlantic Ocean" unbedingt mal anhören. Das geht auf MySpace sogar in voller Albumlänge: Klick!

Außerdem spielt Richard Swift diese Woche drei Konzerte in Deutschland:

07.05. Köln, Underground
08.05. Berlin, Privatclub
09.05. Hamburg, Headcrash

Wenn's in meiner Nähe wäre, würde ich auf jeden Fall hingehen :-)

Hinterlasse uns eine Nachricht, warum Du diesen Post melden möchtest.

Spotify

Weitere Rezensionen im Plattentests.de-Archiv

Threads im Forum