
Titus Andronicus - The airing of grievances
XL / Beggars / Rough TradeVÖ: 27.02.2009
Your life is over
Manche Bands treten noch nach, wenn der Sargdeckel längst zugeklappt wurde. Sie sind uneinsichtig, unverbesserlich, sie sind wie Titus Andronicus aus Glen Rock, New Jersey. Es gibt in ganz Amerika keine kleinstädtischere Kleinstadt, wenn man ihnen das glauben will. Es gibt dort nichts, worüber man sich ärgern, aufregen oder sonst wie hochschaukeln könnte. Für Titus Andronicus hat dieser Umstand nicht bloß gereicht, um richtig sauer zu werden - sie steigern sich auf ihrem Debütalbum "The airing of grievances" regelrecht rein in eine solche Mischung aus Aussichtslosigkeit, Menschenhass und Gewaltbereitschaft, dass man gar nicht mehr wissen will, wo all das eigentlich herkommen konnte in Glen Rock, New Jersey. Ihre Energie ist reine Verzweiflung, nicht produktiv, sondern immer destruktiv. Ihr letztes Aufbäumen passiert im vollen Bewusstsein des baldigen Endes, man steht da also besser nicht im Weg.
Titus Andronicus sind Arcade Fire als durchgedrehte Barband, The Hold Steady mit echten Problemen und wahrscheinlich auch das eine Pferd, das sich von keinem apokalyptischen Reiter dressieren lassen würde. In ihrem ersten Song "Fear and loathing in Mahwah, NJ" bringen sie nacheinander unter: einen abgebrochenen Folksong-Auftakt, durchkreuzt von einem gar nicht herzhaften "Fuck you!"-Gemeinschaftsschrei. Einen Pop-Punk-Blowout, der sogar Spaß macht, bis er sich selbst den Hals umdreht. Und schließlich noch ein schniekes Hairmetal-Tapping zum kollektiven Augenverdrehen über die Gesellschaft, das System oder was man halt sonst gerade hasst. Patrick Stickles singt dazu wie Conor Oberst ans brennende Kreuz genagelt. Er ist der Einzige bei Titus Andronicus, der wirklich so bärtig und bärig aussieht, wie man sich eigentlich die ganze Band vorstellen möchte.
Solche Ungereimtheiten sind hier Teil einer höheren Wahrheit: Während den Songs auf "The airing of grievances" immer wieder etwas Proletenhaftes anhängt und sie den Abgründen bierseliger Jungsmusik in einigen Momenten gefährlich nahe kommen, sind sie letztlich doch sehr viel schlauer, belesener und kunstbeflissener, als sie zunächst erscheinen. Selbst eine Boogie-Rock-Lebenszwischenbilanz wie "My time outside the womb" klingt bei Titus Andronicus nach Endgültigkeit und liegen gebliebener Teenage Angst. Stickles' Text vom Weg aus dem Mutterschoß bis ins siebte Schuljahr steckt allerdings so voller Fatalismus und aufrechtem Außenseitertum, dass man beinahe gut in Mathe sein will, nur um das alles nachfühlen zu können.
"The airing of grievances" gipfelt schließlich in der bandeigenen Nationalhymne "Titus Andronicus", einer Art Pubrock-Riot mit fliegenden Stühlen, berstenden Tischen und klimpernden Whiskyflaschen, der den Schlüsselzeilen der Platte - "There'll be no more cigarettes / No more having sex / No more drinking till you fall on the floor / No more Indie Rock / Just a ticking clock / You have no time for that anymore" - auch noch ihren besten Schlachtruf hinterherjagt. Titus Andronicus brüllen "Your life is over", Rücken an Rücken und über gekreuzte Gitarrenhälse hinweg. Danach muss ihr Album zwangsläufig langsamer und zäher werden; die Lieder finden kein Ende mehr, aber in "No future" noch mal einen Weg aus der Ausweglosigkeit, der sie zur Death-Folkband mit Public-Enemy-Zitat werden lässt. "Welcome to the terrordome" - wo sollte man auch sonst hinwollen mit diesen Leuten.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Fear and loathing in Mahwah, NJ
- My time outside the womb
- Titus Andronicus
- No future
Tracklist
- Fear and loathing in Mahwah, NJ
- My time outside the womb
- Joset of Nazareth blues
- Arms against atrophy
- Upon viewing Brueghel's "Landscape with the fall of Icarus"
- Titus Andronicus
- No future
- No future part 2: The days after no future
- Albert Camus
Referenzen
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