
Guns N' Roses - Chinese democracy
Geffen / UniversalVÖ: 22.11.2008
Schneller als der Relaunch
Wir leben in Zeiten des Umbruchs. Amerika hat einen afroamerikanischen Präsidenten gewählt, der Kapitalismus frisst sich selbst und seine Kinder, und auch das Katzenfutter von Aldi hat schon angenehmer gerochen. Wenn die Geschichtsschreiber aber in Kürze zur Feder greifen, werden sie als das prägende Ereignis eines an prägenden Ereignissen nicht armen Jahres den größten Verlust dieser Zeit auswählen: Mit Tränen der Erschütterung nimmt die Weltöffentlichkeit Abschied von dem lieb gewonnenen musikalischen Treppenwitz "Chinese democracy". Er ist im kalten Novemberregen des Jahres 2008 und dem jugendlichen Alter von gerade mal 15 Jahren so plötzlich von uns gegangen.
Wie aus dem Nichts findet es auf einmal überall statt, dieses Phantom-Album, das über die Jahre mehr als nur ein paar hochklassige Musiker eingesogen und unverdaut wieder ausgespuckt hat. Es ist ein wenig peinlich, dass das Album schneller fertig wurde als der ähnlich oft verschobene Relaunch von Plattentests.de. Während iTunes über seine Verkäufe jubelt und der Dr.-Pepper-Konzern mit der Büchse Cola hadern dürfte, die er jedem der 299.999.999 teilnahmeberechtigen Amerikaner zum Album-Release versprochen hatte, fragen sich Metallica vermutlich, warum sie für das gleiche Maß an medialer Aufmerksamkeit über ein halbes Jahr mit den Promotion-Armen rudern mussten. Dass der frühvergreisten und grundskeptischen Feuilleton-Entourage größtenteils nichts besseres einfiel, als ihre lange vorbereiteten Schubladen-Verrisse durch ein paar Songbeschreibungen anzureichern, ist bei einem Album, dass schon qua Genre und Produktionszeit ein Anachronismus sein muss, weder überraschend noch schlimm.
Schwerer wiegt, dass mit dem Erscheinen der Platte die nüchterne Realität den Mythos um "Chinese democracy" unbarmherzig entzaubert. Plötzlich ist da Musik, die sich messen, vergleichen, einsortieren lässt und selbstverständlich nicht an die Erwartungshaltung heranreicht, die sich in eineinhalb Dekaden voller Nostalgie und Verklärung aufgetürmt hat. Dennoch scheint Axl Rose alles gegeben zu haben, um das Album so bombastisch und pathetisch aufzublasen (auch diese Rezension soll nicht ohne die Worte "Opus Magnum" auskommen müssen), wie es das Botox gerüchteweise mit seinem Gesicht getan hat. Was man direkt festhalten kann: "Chinese democracy" ist besser als sein Ruf - und sowieso besser als alles, was Slash & Co. der Menschheit mit Velvet Revolver zugemutet haben.
Klar: Es gibt den unnötigen Intro-Firlefanz, Songs wie "Shackler's revenge" mit seinen bemühten Industrial-Anleihen oder Radio-Designs à la "There was a time", die einen irritiert bis unbefriedigt zurück lassen. Ebenso klar: Viele Songs kleben auf die eine oder andere Weise an der eigenen Vergangenheit. Woher man beispielsweise den Kinoszenen-Einschub von "Madagascar" oder das Gitarrenintro zu "Prostitute" kennt, weiß man, ohne nachzudenken. Aber: Schon 1991 hat diese Band ihre Instrumente und Egos an der Kitschgrenze spazieren geführt und dabei keinen sich überschlagenden Gitarrenaufgang wie in "Better" hinbekommen. "Street of dreams" protzt deshalb völlig zurecht mit einer der prächtigsten Gesangmelodien in der Guns-N'-Roses-Geschichte, und "If the world" gibt Roses Gesang eine schleppende Funk-Keyboard-Grundlage, die bei den frühen Faith No More ausgeborgt wurde.
Vielleicht muss man es in aller Deutlichkeit aussprechen: "Chinese democracy" ist kein reines Rockalbum, erst Recht keins wie "Appetite for destruction" - was einem Teil der Kritik schon die Grundlage entzieht. Die Version von pompösem Pop mit harten Gitarren, der sich Rose zum Teil verschrieben hat und die in Piano-Schmachtfetzen wie "This I love" gipfelt, ist jedenfalls absolut akzeptabel, solange daneben (Gesangs-)Leistungen wie "I.R.S." stehen. Er hätte es sich einfacher machen können, hätte das straighte Whiskey-und-Weiber-Album aufnehmen können, das scheinbar die halbe Welt von ihm haben wollte. Stattdessen hat er Verse-Chorus-Verse-Strukturen verworfen und mutig - andere sagen: hilflos - mit Versatzstücken des jeweils aktuellen musikalischen Zeitgeists sein "Chinese democracy"-Patchwork zusammenexperimentiert. Nicht wirklich schlüssig, aber eben doch gut. Soviel Tragik am Ende auch im gefallenen Rockstar, seinem Album und dessen Entstehungsgeschichte steckt: Den persönlichen Umbruch kann ihm keiner mehr nehmen. Nach 15 langen Jahren ist Axl Rose endlich frei.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Better
- Street of dreams
- I.R.S.
Tracklist
- Chinese democracy
- Shackler's revenge
- Better
- Street of dreams
- If the world
- There was a time
- Catcher in the rye
- Scraped
- Riad n' the bedouins
- Sorry
- I.R.S.
- Madagascar
- This I love
- Prostitute
Im Forum kommentieren
The MACHINA of God
2018-06-23 01:40:21
Werd si ja gratis in Leipzig sehen. Bin ja fast etwas gespannt.
keenan
2018-06-22 11:30:09
ach ist die platte jetzt tatsächlich erschienen...?
horszt
2018-06-19 23:02:10
1/10
Mister X
2016-04-23 02:17:42
ok sorry ist dann noch ganz gut. gebraucht hat man das ding aber nicht. bin gespannt ob noch jemals eine platte mit axl und slash erscheint.
The MACHINA of God
2015-12-31 13:03:12
*ins Zimmer stürm*
*Aus-Knopf drück*
Einfach mal wieder ausgemacht. 10/10
:D
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