Giant Sand - Provisions

Yep Roc / Cargo
VÖ: 05.09.2008
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10
9/10

Aggregatwechsel

Howe Gelb kann arrangieren, kom- und disponieren wie und was er will: Sand, Staub und Wüste bleiben die Vokabeln, mit denen die Musikpresse Giant Sand turnusmäßig zu Beton anrührt. Beinahe meint man, die Band könnte genauso gut ein Aggregatzustand sein, dessen Atomgitter selbst bei über 1000 °C höchstens sachte um sich selbst rotiert. Kürzlich rettete sich Gelb kopfüber in das seitdem viel zitierte Spruchband, Giant Sand sei vor allem eine Stimmung. So oder so wird das aber der enormen Beweglichkeit, die auch ihr mittlerweile (je nach Multiplikator) fünfzehntes bis zwanzigtes Album in dreizehn Jahren ausstrahlt, nur sehr bedingt gerecht.

Denn von der Lebensfülle, mit der Gelb seine zuckenden und innerlich vibrierenden Lieder zerfurcht, dürfen sich ähnlich herummäandernde Geister wie Elvis Costello oder Lou Reed gleich ein ganzes Bergmassiv abschneiden. Wie "Provisions" vom Laid-Back-Gitarrenstil der Marke J.J. Cale immer wieder zum staubigen Rumpeln und Pumpeln kommt; wie in Mini-Takten und -Betonungen entweder kurz der Rhythmus angezogen wird, Sirengeheul aufbrandet und gleich wieder versinkt; wie sich Gelbs Intonation an den unmöglichsten Stellen für einen Vierteltakt in eine gekonnte Schnodderigkeit öffnet oder die Trompeten hereinwimmern und das Klavier sich zum eigenen Verschwinden anschlägt - das alles ist zugleich derart spannend und präzise arrangiert, dass sich der viel vermutete Beititel des Albums als "(Im)Provisions" der Lächerlichkeit preisgibt. In Wahrheit sitzt hier jede Geste, jedes Detail geradezu perfekt und haarspitzengenau. Dennoch nimmt man die Strenge der Konstruktion zu kaum einer Stelle als solche wahr.

Gelb und die Frauen ist ein weiteres großes Thema auf "Provisions". So gerät PJ Harveys Gitarrenminiatur "The desperate kingdom of love" unter seinen Hochkultur-Arrangements nicht nur eineinhalbmal so lang, sondern gleich doppelt so gut. Auch die Duette mit unter anderem Neko Case ("Without a word"), Isobel Campbell ("Stranded pearl") und Henriette Sennevaldt erreichen eine Dichte, wie sie zuletzt höchstens zwischen Scout Niblett und Bonnie 'Prince' Billy herrschte. Und wenn die in all ihrer zerbrechlichen Güte ohnehin schon erschütterte Pianoballade "Spiral" durch den Voices Of Praise Choir noch zusätzlich entgeistert wird, beweisen alle Beteiligten, dass sie gemeinsam vielleicht keine Wunder vollbringen, aber doch nachhaltig (ver)zaubern können.

Apropos alle Beteiligten - spätestens mit "Provisions" ist die Trennung vom Calexico-Nukleus auch musikalisch kein Thema mehr. Im Gegenteil: Gelb und sein neues, bereits von "Is all over ... the map" bekanntes dänisches Trio zeigen sich derart in Geberlaune, dass sie das Album mit zwei astreinen Geschenken beenden: "Worlds end state park" löst sich nach verschlepptem Beginn in Gitarrenlärmkaskaden auf, und "Well enough alone" - das einst als "Nail in the sky" durch Gelbs letztes Soloalbum "'Sno angel like you" schluchzte - beendet "Provisions" mit einem dahergewunkenen, brodelnd aufstrebenden Alternativ-Folkrocker, wie ihn Giant Sand zuletzt in den 90ern spielten. Als sei sich das Album gar nicht bewusst, was für einen unfassbaren Schöngeist es bis dahin beschworen hat, wird hier jegliche Erwartungshaltung konsequent wieder ausgetrieben. So endet "Provisions" mit zwei erneut überragenden Songs und einem unangebrachten Understatement. Derart geerdet muss man erst mal sein.

(Tobias Hinrichs)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Without a word
  • The desperate kingdom of love
  • Spiral
  • Well enough alone

Tracklist

  1. Stranded pearl
  2. Without a word
  3. Can do
  4. Out there
  5. The desperate kingdom of love
  6. Increment of love
  7. Spiral
  8. Pitch & sway
  9. Muck machine
  10. Belly Of Fire
  11. Saturated beyond repair
  12. World's end state park
  13. Well enough alone
Gesamtspielzeit: 48:03 min

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