The Fiery Furnaces - Widow city

Thrill Jockey / Rough Trade
VÖ: 12.10.2007
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Spannung, Spiel und Schokolade

In Springfield gibt es eine Rolltreppe, die ins Nichts führt, aber darüber kann Matthew Friedberger natürlich nur lachen. Er ist der Meister aller Sackgassen, Weggabelungen und vierspurigen Kreisverkehre. Niemand sonst hat mehr Falltüren, Finten und rote Heringe in seiner Musik. Allein aus den Melodien, die er nur vortäuscht, andeutet oder gleich wieder versanden lässt, würden ökonomischer haushaltende Musiker ganze Platten inklusive Bonus-Tracks, B-Seiten und japanischer Special Edition machen. Die Fiery Furnaces sind jetzt trotzdem beim fünften Album in fünf Jahren angelangt - Matthews Solodebüt-Doppel-CD aus 2006 nicht mitgerechnet. Wie sie es dabei immer geschafft haben, originell, unberechenbar und in Bewegung zu bleiben, ist eine Frage, die auch "Widow city" nicht beantworten kann. Trotzdem Ehrensache: dass die Platte mehr neuen Denksport ins Haus bringt, als die rätselwütigste Oma mit Freizeit-Revue-Abo jemals lösen könnte.

Nach "Bitter tea", dem rückblickend erstaunlich düsteren letzten Album/Meisterwerk von Matthew und seiner Schwester Eleanor, lag die Idee nahe, dass die Fiery Furnaces nun genügend überlange, überladene, übermotivierte Lieder geschrieben haben müssten, um als erste Band der Welt auf umweltverträgliches Songrecycling umsteigen zu können. All die angesammelten Melodiefragmente, Soundhäufchen und Tonbandfetzen einmal frisch verklebt - und niemand würde merken, dass ihre neue Platte gar keine neuen Songs enthält. "Widow city" will es aber gar nicht so leicht haben. Das Album begreift sich lieber wieder als Musical, in dem jedes einzelne Stück ein Musical für sich ist, von denen kein einziges nach Musical klingt. Und nebenbei guckt es mal, welche Dummheiten, Kunstfehler und Bubenstreiche sich der Pop in 2007 noch so unterjubeln lässt.

Eine Idee, die weiterhin erstaunlich gut altert - aber eben doch altert. Vor vier Jahren wäre man vermutlich gar nicht mehr bei Bewusstsein gewesen, um mitzukriegen, wie "The Philadelphia Grand Jury" den einen Gitarrentritt abbekommt, der für die ganze Platte entscheidend wird. Heute schleppt man sich etwas mühsam durch die vier Minuten Soundwarmlaufen davor. "Widow city" wird in der Folgezeit trotzdem zu so etwas ähnlichem wie einer Rockplatte. "Automatic husband" mit grobschlächtigem Schluss und das beinahe geradlinig durchgehaltene "Ex-guru" mit Flöte und Refrain stellen da schnell Klarheit her; ausgerechnet "Clear signal from Cairo" treibt es jedoch wieder derart bunt, dass alle Sortierungsversuche sinnlos bleiben. Das Leitmotiv könnte eine Industrialband mit Spielzeuginstrumenten aufgenommen haben. Die gegenläufige Klaviermelodie, das aufblühende Mellotron und der preisgünstige Gemischter-Salat-Mittelteil - das hingegen ist alles unverkennbare Friedberger-Schule.

Aus Eleanor wird in diesem ganzen Zirkus zusehends ein weiteres Instrument, das ihr Bruder nach Belieben spielen und verfremden kann. Mal sprechsingt sie seine gewohnt Alliterations-affinen Texte wie eine leicht gruselige Aufziehpuppe, dann plötzlich schneller als Scatman Johns Schatten und immer wieder erstaunlich nahe am infarktgefähredeten Herzen dieser beispiellos eigenwilligen Großes-Kind-Musik. Dass die Songs dabei so kurz sind wie seit ihrer wahnwitzigen Pausenfüller-"EP" nicht mehr, gleichen die Fiery Furnaces durch fließende Übergänge und nochmals verringerte Aufmerksamkeitsspanne aus. Man kann das dann genauso quirlig wie ermüdend, konsequent oder inkonsequent finden. Matthew wird's egal sein - er behauptet schließlich, gerade an einem Handtanz- und Zeichensprachen-Ballett zu schreiben, während Eleanor gezwungen wird, seine besten Arien zu einer Platte zusammenzufassen. Hat alles Sinn. Man muss nur mal darüber nachdenken und sich gleichzeitig "Wicker whatnots" anhören.

(Daniel Gerhardt)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Duplexes of the dead
  • Automatic husband
  • Ex-guru
  • Navy nurse

Tracklist

  1. The Philadelphia Grand Jury
  2. Duplexes of the dead
  3. Automatic husband
  4. Ex-guru
  5. Clear signal from Cairo
  6. My Egyptian grammar
  7. The old hag is sleeping
  8. Japanese sleepers
  9. Navy nurse
  10. Uncle Charlie
  11. Right by conquest
  12. Restorative beer
  13. Wicker whatnots
  14. Cabaret of the seven devils
  15. Pricked in the heart
  16. Widow city
Gesamtspielzeit: 59:05 min

Im Forum kommentieren

Wowwy

2019-08-07 20:34:50

Letztes Jahr im November habe ich sie zusammen mit meinem Partner in Hamburg gesehen

Oha, wie kommt das?

Elisa

2019-08-07 00:03:39

... Ist ja schon einiges her mit Einträgen...
Egal. Ich bin absoluter Furnaces Fan und kenne auch Eleanor persönlich, 2x getroffen und schön unterhalten... Sie ist einfach wundervoll und voller Wunder 😊 das am Rande erwähnt. Ich habe alle Alben der Furnaces 2010 legal aus dem Netz gezogen, nachdem mich eines von ihnen auf meiner Indie Playlist inspiriert hat. Erst dachte ich wie ihr, langweiliges Intro (The Philadelphia Grand Jury) und immer weggedrückt. Bis zu DEM Tag, an dem ich es mir bewusst und extra anhörte - ich nahm alles zurück und war hin und weg von den großartigen Klängen. Somit begann meine Recherche über die Band und Discographie - wie gesagt, ich zog sie mir alle 12 ganz legal. Dann ging das Ganze los. Ich beziehe mich hier lediglich auf Widow City, ein für mich sehr wichtiges und tolles Album, auch, wenn es manchen zu laut erscheint. In all ihren Liedern spricht resp. singt mir Eleanor aus der Seele. Ich liebe diese unterschiedlichen Klänge und Melodien sowie ihre wahnsinnig schöne Stimme (und Aussehen 💞!) Für mich gibt's keine andere Band mehr. Auch Eleanor soll finde ich toll. Letztes Jahr im November habe ich sie zusammen mit meinem Partner in Hamburg gesehen und gesprochen, auch einige Fotos gemacht. Ich gehöre der kleinen Fangemeinde an, die eine Band liebt, die fast kaum einer kennt. Danke! Und das schon 9 Jahre!

P.s. Mein Name ist Elisa und der meines Bruders Matthias - kein Zufall 😉

mmhh

2010-11-22 22:55:41

vielleicht ihr bis dato bestes Album?

monguelfino

2007-12-14 10:56:07

das album wird in meiner jahresliste unter den top3 zu finden sein. zudem haben die furnaces im wiener flex den live-auftritt des jahres geliefert und das obwohl eleanor aus gesundheitsgründen nicht mal dabei war.


1) The Philadelphia Grand Jury 9/10
2) Duplexes of the dead 10/10
3) Automatic Husband 9/10
4) Ex-Guru 8/10
5) Clear signal from Cairo 10/10
6) My egyptian grammar 8/10
7) The old hag is sleeping 5/10
8) Japanese Slippers 8/10
9) Navy Nurse 9/10
10) Uncle Charlie 5/10
11) Right by conquest 7/10
12) Restorative beer 9/10
13) Wicker whatnots 8/10
14) Cabaret of the seven devils 7/10
15) Pricked in the heart 7/10
16) Widow City 6/10

virginia

2007-12-14 00:56:26

Eine der besten Platten in diesem Jahr.

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