Tocotronic - Kapitulation

Vertigo / Universal
VÖ: 06.07.2007
Unsere Bewertung: 9/10
9/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Die Letzten werden die Ersten sein

Für die Querdenker in uns ist Kultur ja vor allem das, was man nicht macht. Werbemusizieren, Trendsurfen, Nationaltheater. Da hält man sich raus, wenn man etwas auf sich hält. Doch wo die einen noch damit beschäftigt sind, mit ihrer Verweigerungshaltung hausieren zu gehen, entwickeln sich die anderen längst schon wieder weiter. Dass Tocotronic zum Beispiel mit einer Märchen-und-Mythen-Platte den Kopf zurück auf den Boden holten und ihr Gehirn einfach mal im Bauch unterbrachten, hatte man weder erwartet noch so recht verstanden. "Pure Vernunft darf niemals siegen" hieß das zuletzt, und Rätselhaftigkeit war der neue Chic.

Wenn Tocotronic jetzt zu sägenden Saiten den eigenen Ruin beschwören oder zu beschwingtem Groove und federleichtem Chor die "Kapitulation" ausrufen, wedeln alle schon wieder sabbernd mit Mindmaps, Assoziationsschemata und Metapherntabellen. Und rennen direkt vor eine Wand aus schillerndem Twang und mollenem Pop. Hier ist kein Analysieren oder Dechiffrieren. Hier ist Musik, die sich vor allem fühlen lässt. Die dem Denken eine erholsame Pause gönnt. Die sich freiwillig der Unsicherheit unterwirft. Und in der "Fuck it all" zur schönsten aller Zauberformeln wird.

Wer hier schon Widersprüche vermutet, sollte sich das erst einmal anhören. Im verführerischen "Verschwör Dich gegen Dich" klingt das winzige Glockenspiel zwischendurch fast lauter als die verzerrten Gitarren. "Dein geheimer Name" hantiert so lange mit schiefen Tönen, bis der Gesang sich in Lieblichkeit auflöst und im aufkeimenden Tumult verschwimmt: "Und das Stromnetz flüstert einsam eine Botschaft für uns zwei / Nur, was wir uns erschleichen, lässt uns für immer glücklich sein." Dass die sich überschlagende Lautstärke dann auch noch jedweder Geheimniskrämerei die Wirkung raubt, ist Ehrensache.

Überhaupt die Lautstärke: "Sag alles ab" plakatiert mit ihrer Hilfe den endgültigen Rückzug mit bleibendem Nachdruck und in flammroten Lettern. Das eröffnende "Mein Ruin" ist sowieso mal das beglückendste Indie-Scheppern, das je mit dem eigenen Untergang gedealt hat. Und "Aus meiner Festung" heraus galoppiert das Schlagzeug den Gitarren davon, während Dirk von Lowtzow und Rick McPhail ihre Klampfen saftig nölen lassen und dann dem Refrain seine glitzernde Romantik nur kurz übel nehmen. Falls man es immer noch nicht mitbekommen haben sollte: Der Längstnichtmehrneuzugang McPhail übernimmt hier gitarristische Führungsaufgaben, die ihre Rolle im Hintergrund wohlig ad absurdum führen und genau dadurch den Tenor des Albums umso trefflicher wiedergeben. Wenn man "Kapitulation" trotzdem für das Rockalbum der Hanseaten halten will, darf man das gerne tun.

Viel substantieller ist aber der Verzicht auf solche Einordnungsversuche. Die Entwicklung, die Tocotronic spätestens mit "K.O.O.K." weg vom hornbrilligen Studentenlebenerklärindierock genommen haben, erklärt die bisherigen Schritte ohnehin immer erst im Nachhinein. Vermutetes Kunsthandwerk resultiert in Weltflucht, gefühlte Kopflastigkeit zerreibt sich unter Vernunftverweigerung. Das Rätsel ist das Konzept, in dem sich dann auch die aberwitzigen Zitate in ihre neuen Kontexte hineinkuscheln können. Dort, wo bei herkömmlichen Bands klare Vorstellungen stehen, blühen bei Tocotronic die Mehrdeutigkeiten erst richtig auf. So bereitet das vorausgeschickte Manifest, nach dem "Kapitulation" das schönste Wort der deutschen Sprache und der freiwillige Untergang der größtmögliche Triumph sei, den Boden für eine wichtige Erkenntnis: "Kapitulation" ist die Voraussetzung für neue Größe. Die nächste Stufe der Evolution.

(Oliver Ding)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Mein Ruin
  • Kapitulation
  • Aus meiner Festung
  • Sag alles ab
  • Explosion

Tracklist

  1. Mein Ruin
  2. Kapitulation
  3. Aus meiner Festung
  4. Verschwör Dich gegen Dich
  5. Wir sind viele
  6. Harmonie ist eine Strategie
  7. Imitationen
  8. Wehrlos
  9. Dein geheimer Name
  10. Sag alles ab
  11. Luft
  12. Explosion
Gesamtspielzeit: 54:17 min

Im Forum kommentieren

Z4

2022-12-04 13:05:43

Musstes ja net kaufen

Band gehört aufgelöst. Alle vier haben inzwischen spannendere Nebentätigkeiten.

Hier stand Ihre Werbung

2022-12-04 10:37:19

Mein Ruin, das ist zunächst
orangenes Vinyl, das viel zu teuer ist,
Bands, die ich ins Herz geschlossen hab
bringen mich finanziell ins Grab

Kai

2022-11-26 21:13:10

Man kann das in den discogs Sales btw ganz gut nachvollziehen. Regulär kaufbar bis März, danach künstliche Verknappung und nun eben den doppelten Preis verlangen.

Eine echte Kapitulation. Oh oh oh

Z4

2022-11-26 21:12:28

Orange Vinyl.

Kai

2022-11-26 21:09:53

Das Album gab es bis zuletzt immer wieder ganz regulär zu einem normalen Preis. Und jetzt ein Repress ohne Bonustracks o.Ä. für über 40€...

Warum?

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