Micah P. Hinson - Micah P. Hinson and the opera circuit

Sketchbook / Hausmusik
VÖ: 17.11.2006
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10
9/10

Feuchte Schäume

Verehrte Damen und Herren, darf ich um etwas Phantasie bitten? Wir machen eine kleine Stippvisite. In ein Badezimmer, ein amerikanisches. Draußen vor der Haustür treibt der alljährliche Schneesturm sein Unwesen und läßt die Herzen der geschützten (und im Warmen sitzenden) Hausherren höher schlagen. Im sanitären Bereich klebt der Dunst am kleinen schäbigen Spiegel und an den wenigen, im Raum verteilten Accessoires. Die Badewanne ist gefüllt mit wohlig warmem Wasser und verziert mit Schaum, der nach Lavendel duftet. Und wer sitzt drin? Wir trauen unseren Augen kaum. Bill Callahan (Smog) reibt Kurt Wagner (Lambchop) gerade mit nicht wirklich erwähnenswertem Duschgel den Rücken ein. Denn Bill und Kurt treffen sich in der kalten Jahreszeit des Öfteren im angenehmen Naß, um dem Genuß der trübsinnigen Songwriter-Konkurrenz zu frönen.

Als nächstes steht Micah B. Hinson zur Debatte und bringt gleich mit dem ersten Song "Seems almost impossible" Aufruhr in das noch ruhende Badewasser: Das ländliche Zirpen einer Grille schenkt der leblosen Nacht etwas Farbe. Eine traurige elektrische Gitarre, die still und weit entfernt von Rhythmus ihren Weg entlang schlendert, gesellt sich hinzu. Die Mundharmonika erschallt aus der Ferne, Hinsons dunkler Gesang schleicht sich väterlich ein und versetzt unseren beiden Musikern einen überraschenden Kurzschluß: "Ich?", vernimmt man es aus beiden Enden der weißen Badevorrichtung. Ob man es glaubt oder nicht, der texanische Songwriter verfügt über eine Stimme, die sich nur mit Biegen und Brechen von unseren gewaschenen Protagonisten trennen ließe. Callahans über die Jahre gereifter Bariton und der nicht minder tiefere Ausdruck in Wagners Stimme, in bekannt abgehackter Form aus tiefster Kehle. Eine ungewollte Verschmelzung.

Doch bevor sich Hinson eine Klage wegen übler Kopie von Gesang und Intention einfängt, sollte "Micah P. Hinson and the opera circuit" als Ganzes in Augenschein genommen werden. Denn obschon sich das Album stark von unseren Protagonisten im Reinemachprozeß beeinflußt fühlt, schlägt es aber doch noch ganz eigene Richtungen ein. Wir hören "Diggin' a grave". Ein Song, der aus dem Ende des Lebens eine nach vorne preschende Zigeunerpolka mit Banjo und Akkordeon macht und vermuteter Trauer die Zunge makaber entgegenstreckt. Auch wenn Hinsons Leitfaden auf seinem zweiten Album eine um sich greifende Melancholie im Americana-Gewand mit gemietetem Kammerorchester ist, verführt er sich selbst immer wieder zu einer Vielzahl an unerwarteten Ausbrüchen. Daß er diese nicht immer unter Kontrolle hat, beweist die textliche Dokumentation seiner inneren Zerrissenheit aufs Deutlichtste. "Letter to Huntsville" beginnt als schlichte Schönheit in Akustik, wird aber ohne Vorwarnung von einer polternden Bigband mit Saxophon aus dem stringenten Konzept gerissen. Dem geplagten Geist werden naivmalerische Träume in wilder Kakophonie geschenkt, die überdies vom tristen Winterlicht gen Sonnenschein tendieren: "I get to California someday." Na denn. "You're only lonely" verhält sich noch unbändiger, bündelt alle Gewalt und Kraft und läßt gitarrenzersetzende Aggressionen gnadenlos und befreiend auf die Hörerschaft los.

Dazwischen findet sich ein wunderschönes Festival an herbstlichem Folk, der sowohl in karger Reduktion ("Drift off to sleep"), melodischem Minimalismus ("She don't own me") wie auch in großangelegten Streicherliebkosungen ("Little boys dream") zu brillieren weiß. Hinsons inbrünstige Stimme sorgt nebenbei dafür, daß die stilistischen Ungereimtheiten mit straffem Fingerspitzengefühl fest verschnürt werden. Unsere prominenten, inzwischen blitzblanken Hobbykritiker haben sich derweil mit Handtuch und einer wohligen musikalischen Trunkenheit in den Schnee verzogen. Sie schauen dem Treiben des Winters zu, blicken starr zum Mond hinauf, erzählen sich Geschichten aus dem Leben und saugen dabei an den Wurzeln lieblichen Schwermuts - und damit an der tiefgreifenden Inspiration für "Micah P. Hinson and the opera circuit". Trübsinn macht Freude.

(Markus Wollmann)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Letter from Huntsville
  • She don't own me
  • Little boys dream

Tracklist

  1. Seems almost impossible
  2. Diggin' a grave
  3. Jackeyed
  4. It's been so long
  5. Drift off to sleep
  6. Letter from Huntsville
  7. She don't own me
  8. My time wasted
  9. Little boys dream
  10. You're only lonely
  11. Don't leave me now!
Gesamtspielzeit: 42:22 min

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