Raphael - Caravane
Capitol / EMIVÖ: 23.06.2006
Leicht entzündlich
Europa ist zusammengewachsen, hört man überall. Tatsächlich fahren die östlichen Grenzbewohner mal schnell rüber nach Polen, um zu tanken und Kippen zu holen, die auf der anderen Seite nach Frankreich, um ihre Trinkjoghurtvorräte aufzustocken. Als Deutschem entgeht einem längst nichts mehr von dem, was im Nachbarland passiert - könnte man zumindest meinen. Hier der Gegenbeweis: Schon mal von Raphael Haroche gehört? Gewußt, daß dessen drittes Werk "Caravane" das meistverkaufte französische Album des Jahres 2005 darstellt und bei unseren Nachbarn in rund einer Million Plattenschränke steht? Daß der Mann beim wichtigsten französischen Musikpreis "Victoires de la musique" die Konkurrenz leer ausgehen ließ und mal eben die Preise "Künstler des Jahres", "Album des Jahres" und "Song des Jahres" absahnte? Nicht? Vielleicht haben ein paar Trinkjoghurtkäufer in Straßburg ja das Album stapelweise in den Hypermarchés gesehen und auf gut Glück eines mitgenommen, weil der junge Mann auf dem Cover so sympathisch aussieht. Alle anderen bekommen hiermit, zur offiziellen Deutschland-Veröffentlichung, Nachhilfe. Und das Album wärmstens ans Herz gelegt.
Es muß nicht immer die Muttersprache Deutsch oder die Weltsprache Englisch sein. Bei Alben wie "Caravane" tun einem diejenigen leid, die sich in der Schule fürs große Latinum entschlossen haben und jetzt zwar entziffern können, was im Schuppenshampoo drin ist, aber bei Französisch nur Bahnhof verstehen. Man sollte schon eine Grundaffinität zu unseren westlichen Nachbarn haben, um "Caravane" etwas abzugewinnen. Es ist ein sehr französisches Album, weit über die verwendete Sprache hinaus. Es atmet den Geist der kleinen Gassen von Paris, wo Raphael lebt, aber auch der endlosen Landstriche in den Provinzen, die nur alle zehn Kilometer mal von einem kleinen Dorf mit Post, Bistro und Megasupermarkt unterbrochen werden. Durch dieses so eigene Land taumelt ein kleiner Junge mit verschmitzten Locken, der im Ausweis Jahrgang 1975 stehen hat, der äußerlich älter geworden ist, im Kopf weiser, aber im Herzen immer 13 geblieben ist. Er kaut auf einem Streichholz oder auch einem Grashalm, hat die Augen nur zum Schein offen und ist in Wirklichkeit ein unverbesserlicher Träumer.
"Caravane" enthält keine klassischen Chansons, beileibe nicht. Aber es gibt sich einer ähnlichen Reduktion auf das Schlichte, Einfache hin. Wenn Meter über der Erde in "Funambule" (dt. "Seiltänzer") die Streicher jubilieren oder in "Ne partons pas fâchés" die Mundharmonika gepustet wird, wie sie gerade an den Lippen liegt. Wenn in "Les petits bateaux" die erste Minute nur ungehemmt "Di di di di dum" jubiliert oder im wunderbaren "Et dans 150 ans" gehoffte anderthalb Jahrhunderte vorgespult wird: Gedanken und Gefühle sind nicht mehr so einfach zu trennen und werden losgelassen, wie sie es verlangen. "Und in 150 Jahren werden Du und ich, mein Liebling, sachte tanzen, wie zwei Vögel auf dem Kreuz." Frei übersetzt für unsere Lateiner. Wer diese unmittelbare, einnehmende Wirkung von Raphaels "Caravane" immer noch nicht glauben kann, der schaue das wunderbare Video zum unglaublich tollen Titelsong. Der werde Feuer und Flamme. Und für dreieinhalb Minuten wieder 13.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Caravane
- Ne partons pas fâchés
- Et dans 150 ans
Tracklist
- Caravane
- Ne partons pas fâchés
- C'est bon aujourd'hui
- Chanson pour Patrick Dewaere
- Et dans 150 ans
- Les petits bateaux
- La route de nuit
- Schengen
- Peut-être a-t-il rêvé?
- La ballade de pauvre
- Funambule
Im Forum kommentieren
Denniso
2009-11-19 22:06:16
@Boston: Sehe ich hinsichtlich des Nachfolgers genauso, dafür ist Le vent aber auch so richtig gut.
"Caravane" bleibt unerreicht und immer noch kein James Blunt in Sicht =)
Boston
2009-11-19 21:16:45
Komisch, ich höre das Album vorzugsweise im Winter. Liegt wahrscheinlich daran, dass ich es auch im Winter gekauft habe.
Der Nachfolger war auch nicht so toll, bis auf den Titelsong. Le vent de l'hiver ist ganz klar eines der besten französischen Lieder der letzten Jahre.
Mixtape
2009-11-19 20:36:40
Geht mir auch so, wobei ich es als klassisches Sommeralbum empfinde, dass ich zur aktuellen Jahreszeit kaum auflege. Leider kommen weder die Vorgänger noch der Nachfolger auch nur annähernd an die Klasse des Albums ran.
Boston
2009-11-19 19:39:25
So viele Songs darauf entwickeln sich zu Klassikern, je älter das Album wird. Ich bin froh, dieses Album in meinem Schrank zu haben und regelmäßig anhören zu dürfen.
Tufkaa
2009-11-19 00:35:08
Eine meiner Lieblings-CDs aus 2006: gefällt mir immer noch richtig gut.
Wie einen das an James Blunt erinnern kann, bleibt auch mir ein unergründliches Rätsel oder, um es deutlicher zu sagen: selten solch einen Griff in die Kloake hier zu lesen bekommen.
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