The Mars Volta - Scabdates
Gold Standard Labs / Universal / MotorVÖ: 04.11.2005
Enigmatischer Exzeß
Ärztlichen Ratschlägen zu folgen, paßt in aller Regel zu Rockmusik wie Rosenkohl zu Feuerwehrautos. Selbst bei zigfachem Hinsehen maximal kaum. Gerade der Tip, für ausreichend Schlaf zu sorgen, bewirkt eher grotesk verzerrtes, verständnisloses Schmunzeln. Doch fast möchte man der Plattenfirma vorschlagen, einen "Bitte ausgeschlafen anhören!"-Aufkleber auf der Hülle der neuen Live-CD von The Mars Volta, "Scabdates", anzubringen. Ziept, zerrt, kratzt und rupft das orgiastisch mäandernde Improvisationsgebräu auf dem Silberling doch enorm munter und vergnügt am Nervenkostüm herum. Aufregend und aufreibend gleichermaßen. Ruhepausen fürs Ohr? Rar gesät. Schonen wollten sie uns noch nie.
Und nach wie vor nicht neu auf dem Tableau weltbewegender Erkenntnisse ist die Feststellung: Wer sich sicher glaubt, die enigmatischen Achterbahnfahrten von Omar, Cedric & Co. zu verstehen, darf sich fast sicher sein, daß er irrt. Zementiert haben sie dies mit jeder Platte stärker. Wenn man denn in diesem Kontext überhaupt von Festigkeit sprechen darf. Das gilt mindestens so deutlich für ihre ausufernden Konzerte. Denn dort stellen sie die absolute Vorläufigkeit der konventionellen Songform unter Beweis. Die Fassungen auf den Studioscheiben sind kaum mehr als Schnappschüsse, in der Gegenwart kurzzeitig gebannte Momente einer unentwegten Metamorphose. Das traumverlorene Tauchen in Klang, das exzessive Auskosten des Moments, das Erschaffen abstruser Klangkosmen aus dem Nichts im Hier und Jetzt, verknüpft mit obskuren Klangcollagen, ganz im Sinne von John Cages "Musik der Geräusche". Kryptisches Chaos als und mit Konzept. Nicht selten steht hier das verwirrte Ohr als Ochs vorm Berg in böhmischen Dörfern.
Die Aufnahmen der "Scabdates" sind zusammengesammelt aus diversen Konzerten der Band der Jahre 2004 und 2005. Von den insgesamt sechs Stücken, die sich in zwölf Teile zergliedern, kennt der geneigte Hörer allerdings nur drei von den Studio-Alben: "Take the veil cerpin taxt" und "Cicatriz" von "De-loused in the comatorium" und "Concertina" von der Tremulant-EP. Daß nicht ein einziger Vertreter von "Frances the mute" die Trackliste ziert, läßt allerdings schon ein, zwei Schweißperlen der Verblüffung auf der Stirn glitzern, paßt aber nur zu gut ins Konzept der Erwartungsdurchbrechung. Einen etwas besser abgemischten Sound - weniger Klangmatsch, mehr Transparenz - hätte man bei allem jedoch schon erwarten können. Auch das vergleichsweise lieblos hingerotzte Artwork hinkt meilenweit hinter der aufwendigen Gestaltung der Studioalben her.
Quietschende Babys, Straßengeräusche und spanische Lautsprecherdurchsagen verquirlen sich zu Beginn der Platte mit Crashbeckenwirbeln, minimalistischen Gitarrenfiguren und Feedback-Schleifen zu einer hypnotisch einlullenden Wolke, in die erst nach gut vier Minuten "Take the veil Cerpin Taxt" einbricht. Das Gedächtnis bejubelt sich plötzlich selbst. "Ha! Ich habe das Stück erkannt!" Doch wie zu erwarten war, werden auch die bekannten Stücke mit der musikalischen Kettensäge zerteilt, zerfasert in ihre Einzelbestandteile, mit Vollgas gegen die Wand gefahren und gedehnt wie Erdbeerkaugummi. Schon nach kurzer Zeit bricht das Stück bei voller Fahrt aus bekannten Bahnen aus, schleudert in ein infernalisches Krachinferno, überschlägt sich dreimal. Das Ohr sucht inmitten der halsbrecherischen Improvisationskapriolen nach Halt, und urplötzlich, auf Schlag, kehrt das Stück für wenige Momente auf den Pfad der Erkenntlichkeit zurück, ehe uns die Spinner aus El Paso alsbald wieder zum Narren halten und erneut in unerhörte Gefilde abdriftet. Der Rock schießt wüst ins Kraut.
Form ist Freiheit. Struktur ist, was man aus dem Moment erschafft und dazu erklärt. Es lebe die akustische Anarchie. Das Trommelfell leidet Schwindel. Verwirrender Samplewust und orgiastische Soli, fingerverknotendes Gefrickel, schweißgebadete Trommelwirbel, Bixlers Stimmenpurzelbäume, Sirenengeheul, schwurbelnde Orgelkaskaden, furztrockene Freejazz-Bläser. Am konventionellsten kommt noch das beinahe gelassen schwingende "Concertina" daher, das Gedächtnis glaubt sich beinahe wieder auf der sicheren Seite, verliert seine Karten aber spätestens im exzessiven Gegniedel-Vabanque-Spiel "Haruspex" wieder, ehe es in der völlig orgiastischen, gigantomanischen Achterbahnfahrt von "Cicatriz" - schlappe vierzig Minuten, übrigens - wieder zwischen Halt und Hilflosigkeit umhergeworfen wird. Je nach Gemütslage ist das horizonterweiternd, enorm fesselnd und mitreißend oder aber völlig überfrachtete Existenzbedrohung für das Nervenkostüm. Völlig erschöpft sinkt das Gehör nach gut siebzig Minuten in sich zusammen. Anstrengend bis ins Mark, aber vermutlich ziemlich groß. Insofern: lange schlafen, die Anlage laut aufdrehen, Handtuch zum Schweißabtupfen bereitlegen, eintauchen. Und das Luftholen nicht vergessen.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Take the veil cerpin taxt
- Concertina
- Cicatriz
Tracklist
- Abrasions mount the timpani
- Take the veil Cerpin Taxt [a)- Gust of mutts b) And ghosted pouts]
- Caviglia
- Concertina
- Haruspex
- Cicatriz [Part I - IV]
Im Forum kommentieren
Fiep
2020-08-17 23:26:02
Hm... das baby am anfang finde ich im nachhinein genial als anfang, wen auch 4 minutne doch etwas zu viel waren.
Take the vail ist eine gute live version, wen auch der jam vl etwas zu ziellos ist.
Caviglia ...eh, okay. zeit füllen.
Concertina: highlight der cd.
Haruspex: noodling
cicatriz: gut, studio version gefällt mir viel mehr.... und ist etwa um 30 minuten zu lang.
Ne, ich bleib dabei, live jammen ist eins, aber an stellen hab is das gefühl jeder jammt für sich, und omar hat die gitarre absichtlich in den vordergrund gemischt.
Mit der soundqualität bin ich auch nicht sehr zufrieden.
Ich liebe übrigens Frances the Mute
Huhn vom Hof
2020-08-17 00:05:56
Meine 5/10 von anno dazumal korrigiere ich mal auf 8/10. Hab das Album nochmal auf Kopfhörern genossen, es erfordert auf jeden Fall eine Menge Konzentration weil manchmal so viel auf einmal passiert. Vor allem Cicatriz Part IV ist harte Kost.
The MACHINA of God
2019-12-21 01:42:13
"Part 4" von "Cicatriz" ist schon lustig. Da ist quasi das gesamte "Cassandra Geminni" drin, aber eber durch den Geschirrspüler gezogen. Generell mag ich das Album sehr, auch und gerade die Zwischenstücke und Kollagen. 8/10
Die Perücke von Robert Plant
2018-10-27 15:16:40
Mir gefällt dieses Live-Album doch auch ziemlich gut. Es passt doch zu TMV, nicht einfach ein normales Live-Album mit ihren Hits zu machen, sondern auch hier zu experimentieren. Doch die Experimente sind für mich im Rahmen bzw. interessant, höchstens gegen Ende von Cicatriz wird es mal ein bißchen haarig, wo es zwischendurch locker acht Minuten lang Field Recordings gibt ... bis es ein letztes Mal zum Leitmotiv des Songs zurückführt, wenn man schon gar nicht mehr damit rechnet.
yanqui
2018-07-25 20:29:58
starke platte, die ich hinter frances und deloused direkt auf platz 3 in der diskographie einordnen würde. nochmal ein stück brachialer als ohnehin schon im studio. klanglich finde ich die aufnahmen auch mehr als okay.
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