Witt - Bayreuth zwei
Epic / SonyVÖ: 27.11.2000
Heiliger Strohsack
"Sex sells!" lautet in diesen Tagen die knackige Devise. Doch was tun, wenn man, anstatt weiblich, Anfang 20 und attraktiv zu sein, bereits 51 Jährchen auf dem Buckel hat, langsam aber sicher beginnt einzuschrumpeln und statt mit einer beträchtlichen Oberweite nur mit einem mitleiderregenden Schnauzbart gesegnet ist? In diesem Fall ist guter Rat teuer. Wie gut, wenn man nicht auf den Kopf gefallen ist und noch seinen Plan B vom Vorgängeralbum in der Schublade hat. Was beim ersten Mal funktioniert hat, kann beim zweiten Mal schließlich nicht schlecht sein, denkt sich Joachim Witt und gießt den Aufguß noch einmal auf. Bereits der scheue Blick auf die CD-Hülle läßt keine Zweifel aufkommen - hier wird Weiterentwicklung ganz groß geschrieben: Aus (Bayreuth) Eins mach (Bayreuth) Zwei, aus "Die Flut" wird "Der Sturm" und anstelle eines roten Tuchs ziert das Cover jetzt ... äh... ein rotes Tuch.
Doch halt! Wer wird denn hier den guten Mann vorverurteilen wollen? Schließlich hat der Tausendsassa der Düsternis zwischen NDW und NDH schon einmal eine 180 Grad-Wendung vollzogen und wenigstens eine faire Chance verdient. Augen zu und durch? Nein, Ohren auf und CD rein (nicht in die Ohren natürlich). Der Opener "Bataillion d'amour", eine Coverversion der alten DDR-Haudegen Silly, läßt einen eine ganze Minute lang im Unklaren, bevor Witt bedingungslos zuschlägt. Hinterrücks schleichen sich unheilvolle Streicher an, und jemand brabbelt in vertrauter Manier salbungsvolle Reime. Doch beim Refrain ist die Schlacht geschlagen: Pathos tropft aus allen Ritzen, der Putz bröckelt von den Wänden. Der Hörer liegt am Boden, doch Witt tritt weiterhin rücksichtslos auf ihn ein. Wenn das herbeigesehnte Ende des "Bataillon d'amour" schließlich erreicht ist und das nächste Stück vielversprechend mit einem "Aus dem Haus bin ich raus / Radikal ist es aus" beginnt, hat man dem fragenden Songtitel "Stay?" ehe man sich versieht ein um Erbarmen heischendes "Nicht um alles in dieser Welt!" entgegengefleht. Doch es hilft nichts, schließlich hat Witt noch neun weitere erbarmungslose Waffen im Ärmel.
Beim besten Willen, was soll man über "Bayreuth zwei" schreiben? Ist es wirklich noch nötig, aus den Texten zu zitieren? Ist es nicht ratsamer, über Ergüsse wie "Diese Qual ist der Gral / 'Frischer Wind' heißt das Kind", "Gott im Himmel, was hängt unter meinem Bauch!" oder gar "Du, Jesus, bist die Kraft in meinem Saft" den Mantel des Schweigens zu hüllen? Gibt es für Menschen, die sich religiöse Inhalte untertan machen, denen sie nicht gewachsen sind, keine gerechte Strafe mehr? Ist in der Hölle noch ein Plätzchen frei? "Bayreuth zwei" wirft einen Sack voll Fragen auf, doch glücklicherweise hat Joachim Witt in seinem religiösen Wahn bedeutungsschwangere Antworten für jede Lebenslage zwischen den Zeilen versteckt. Zwischen Schüttelreim und Bauernregel ist noch genügend Platz für eine Hippoportion Scharfsinn oder auch - um in Witts Sprache zu sprechen - für jede Menge Leidenschaft, die Leiden schafft.
Wo Kollegen wie Rammstein oder Weissglut mit gutem Willen zumindest noch den Hauch eines Augenzwinkerns erkennen lassen, ist beim selbsternannten "linken Kosmopoliten" mehr als nur der Lachmuskel vom Keuschheitsgürtel außer Gefecht gesetzt. Schließlich hat Witt die Weisheit mit Löffeln gefressen und zeigt keine Scheu, sie dem Hörer schlecht verdaut ins Gesicht zu spucken. Witts Schnurrbart ist inzwischen ab, doch die alten Bärte werden länger und länger. Der goldene Reiter fühlt sich zum allwissenden apokalyptischen Reiter berufen und reitet, das "R" zum "Rrrroß" gerollt, durch tiefste Nacht gen Horizont. Wenn Plattheit reiten könnte, wäre er längst dort.
Highlights & Tracklist
Highlights
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Tracklist
- Bataillon d'amour
- Stay?
- Der Sturm
- In tiefer Nacht
- Jetzt und ehedem
- Seenot
- Kyrie Eleison (Der Mönch)
- Dann warst Du da!
- Hey - hey (Was für ein Morgen!)
- Die Flucht
- Über den Ozean