Antony & The Johnsons - I am a bird now
Secretly Canadian / CargoVÖ: 07.02.2005
Reibungswärme
Ein Mann, sein Piano und sein Weltschmerz. Keiner weiß, wo all das herkommt. Scheinbar aus dem Nichts. Und plötzlich ist er da, in aller Munde, in aller Herz. Damit hatte selbst der sonst durch nichts zu erschütternde Promoter der deutschen Cargo-Abordnung nicht gerechnet. "Ich bin völlig überfordert mit Nachfragen zu diesem Thema, z.Zt. sind es etwa 100." Wie kommt's? "Reinhören, dann weißt Du, warum!", sucht er nach Erklärungen. "Viele sind froh, endlich wieder gehaltvolle Kunst, aussagefähige Musik und einen kontroversen und schrägen Typen (mit einer unbestritten begnadeten Stimme) im Einheitsbrei der Pop-Maschinerie erleben zu dürfen."
Eigentlich nur ein kurzer Mailwechsel. Und doch der Anfang einer großen, langanhaltenden Liebe. Denn was zunächst wegen des schrägen Covers und akuter Songwriter-Übersättigung in der Ecke landete, ist vielleicht das Konsens-Album des Jahres. Vollbracht von Antony. Ein Mann ohne Nachname, aber mit einer Geschichte. Begonnen hat er auf einer Kleinkunstbühne in New York City. Und in den Neunzigern einem Kollektiv namens Blacklips beigewohnt, das nach eigener Aussage aus "zahnlosen Perversen, Drag Queens und Punkerinnen" bestand. Das schräge Äußere ist geblieben, auch eine gewisse Androgynität in den Lyrics: "One day I'll grow up / And be a beautiful woman." Und doch wollen das feminine Erscheinungsbild und die verzierten Augen gar nicht passen zu seiner grundehrlichen, ungeschminkten Musik.
Es ist vor allem Antonys Stimme, die im Vordergrund steht, die Songs trägt, unfaßbar ist, fast schon übersinnlich, und für viele lachhafte Vergleiche sorgt: "Irgendwo zwischen Boy George und einem japanischen Schulmädchen", liest man da. Es folgt ein weiterer verzweifelter Versuch, "I am a bird now" zu beschreiben. Man heize einen Moment lang die Phantasie an und stelle sich folgende vier Szenarien vor: Moneybrother hat Sarah Kuttner beleidigt und bekommt zur Strafe die Hälfte seiner Streicher weggenommen. Nina Simone ist als Mann wiederauferstanden und jammt mit dem Klosterchor. Lou Reed hat aufgehört zu granteln und sich den "Perfect day" endlich hinter die Löffel geschrieben. Stevie Wonder sieht plötzlich wieder, wie die Welt da draußen ist, und hat sich nicht nur die Linsen, sondern auch die Stimmbänder mit Kreide polieren lassen. Nimmt man alle vier Szenarien zusammen, ist man halbwegs nahe dran an den Klängen von Antony & The Johnsons. Und immer noch weit weg.
Alle wollten sie als Gäste dabei sein auf "I am a bird now". Devandra Banhart in "Spiraling" und Rufus Wainwright in "What can I do?" vertreten die jungen Wilden, Lou Reed in "Fistful" of love" die Vorbilder und Boy George in "You are my sister" die schräge Vergangenheit des Antony. Und bald ist auch die ganze Welt mit ihm. Sie steht ihm bei, wie er sich aufreibt und uns am Ende all die gewonnene Wärme spendet. Es ist genug für alle da. Nur beschreiben kann man "I am a bird now" irgendwie gar nicht. Noch Zweifel? Gib ihm nur zehn Sekunden an der Reinhörstation Deines Plattenladens, einmal nur dem Auftakt von "Hope there's someone" eine Chance. Du wirst Feuer und Flamme sein. Und endlich verstehen. "Reinhören, dann weißt Du, warum!"
Highlights & Tracklist
Highlights
- Hope there's someone
- My lady story
- Man is the baby
Tracklist
- Hope there's someone
- My lady story
- For today I'm a boy
- Man is the baby
- You are my sister
- What can I do?
- Fistful of love
- Spiralling
- Free at last
- Bird gerhl
Referenzen
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