Halsey - The great impersonator

Columbia / Sony
VÖ: 25.10.2024
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10
8/10

Die höchste Form der Bewunderung

Erinnert sich noch jemand an Liam Lynch? Der bekam 2003 etwas Aufmerksamkeit mit seiner Platte "Fake songs", auf der er unter anderen Veralberungen von Künstler*innen wie Björk, Depeche Mode oder David Bowie präsentierte. (Der "Fake David Bowie song" hat mit einem bedeutungsschwanger vorgetragenen "Sorry Mum, I'm five years late for teatime" eine absolut goldene Zeile.) Letztlich verfolgt Halsey auf ihrem fünften Album "The great impersonator" ein ähnliches Konzept, nur ohne den parodistischen Hintergrund. Jeder der 18 Tracks ist einer anderen Person zugeordnet, die Halsey vor oder im Laufe ihrer Karriere beeinflusst hat – die Referenzen unterhalb dieser Rezension bilden diese in Reihenfolge der Tracklist ab. Als Begleit-Gag hat sie sich auf Social Media für einen täglichen Countdown jeweils entsprechend ihrer Vorbilder zurechtmachen lassen, teils mit wirklich verblüffendem Ergebnis. Und dann behandelt die Platte auch noch wahlweise die Entfremdung oder Wiedervereinigung ihres Alter Egos Halsey mit dem echten Menschen Ashley Frangipane dahinter. Viele Texte sind autobiografisch, teils schmerzhaft direkt über ihren Kampf gegen Krebs, und drei Songs namens "Letter to God" sind in diesem Zuge thematisch verknüpft. Konzept-Overkill? Mitnichten.

Das Wichtigste ist nämlich, dass "The great impersonator" musikalisch ein beeindruckendes Album ist, das verblüfft ob des weiten Wegs, den Halsey in einem Jahrzehnt gegangen ist. Schon der von Trent Reznor und Atticus Ross produzierte Vorgänger "If I can't have love, I want power" betrieb leidenschaftlichen Eklektizismus und hatte längst nichts mehr mit dem hochpeinlichen Lana-Del-Rey-Verschnitt "New Americana" zu tun, in welchem sie zu Beginn ihrer Karriere "legal marihuana" auf "Biggie and Nirvana" reimte. Das jüngste Werk stellt sich noch einmal breiter auf, statt einem weiteren Mainstream-Hit wie "Without me" hinterherzujagen, lotet Halsey aus, was sie zwischen akustischem Singer-Songwriting, Emo-Rock und Kammerpop alles erfolgreich fabrizieren kann, und stellt fest: eine ganze Menge. Denn selbst wenn man das ganze Konzept drumherum außer Acht lässt, bleibt ein Album, das großartige Songs im Akkord ausspuckt.

Es ist aber natürlich verlockend, die Stücke mit der jeweils aufgeführten Inspirationsquelle im Hinterkopf zu hören, zu erforschen, welche Elemente passen, welche nicht. Das intensive "Dog years" könnte dank ungeschliffener akustischer Gitarre, spartanischer Percussion und leidend-hysterischen Vocals tatsächlich ein PJ-Harvey-Demo sein. Das elegante "Panic attack" hat mehr als nur Echos von Fleetwood Macs "Dreams" im Intro, während "Letter to God (1983)" Bruce Springsteens "I'm on fire" direkt als Basis zu verwenden scheint. Ein besonderer Fall ist "Lucky", welches Britney Spears' gleichnamigen Song quasi covert, aber aus einem – aus heutiger Sicht mit heutigem Wissen zynisch anmutenden – Außenblick die Wende auf Halsey selbst vollzieht. Kate Bush lässt sich dagegen aus dem hübsch reduzierten "I never loved you" nur mit viel Mühe und Fantasie heraushören und "Arsonist" ist mit seinen spukigen Tape-Spielereien und dem schleichenden Beat fraglos ein Highlight, aber wohl zehn Mal mehr Billie Eilish als Fiona Apple. Auch wenn ein ähnlicher Biss da ist: "Did you know that the father's DNA stay inside the mother for seven years? / Have you ever waited seven years?"

"The great impersonator" hat aber eben nicht das Ziel, um jeden Preis eine Kopie des jeweiligen Vorbilds abzugeben und nach diesem Maßstab sollte es auch nicht bewertet werden. Stattdessen sticht es tief. Halsey stolpert kaum noch über allzu juvenile Formulierungen, sondern pendelt zwischen Seelenstriptease und galligen Onelinern. "Well, they say all dogs go to heaven / Well, what about a bitch?" Schon der ausladende Opener "Only living girl in LA" beschäftigt sich wie die Songpatin Marilyn Monroe mit dem eigenen Ableben angesichts ein paar furchtbarer Jahre, die Halsey hinter sich hat. Zu Gitarrenstrumming und plötzlich einfliegenden Effekten singt sie: "I don't know if I could sell out my own funeral / At least not at this point in time / And if I ever try to leave behind my body / At least I know it was never mine." Die "Letter to God"-Teile chronologisieren derweil Gedanken über Krankheit und Tod aus kindlicher, jugendlicher und Mutter-Perspektive, begleitet von jeweils verrauschtem Vintage-Klavier, Heartland-Rock und sphärischem R'n'B. Und bei "Hurt feelings" wagt Halsey sogar einen Blick auf sich selbst und ihr Debüt "Badlands".

Vielleicht ist der eingangs erwähnte David Bowie die wichtigste Figur in diesem Spiegelkabinett – sozusagen als Joker, der gefühlt selbst alles schon einmal imitiert hat. Auch das ihm gewidmete "Darwinism" wäre irgendwann von ihm vorstellbar gewesen, schließlich gibt es sich im Geiste entrückt und spacig. "Leave them traumatized with visions of its glow behind my face / They say that God makes no mistakes but I might disagree." Direkt darauf folgt das diametral entgegengesetzte, energische "Lonely is the muse", bei dem etwas mehr Sound-Punch im Refrain gutgetan hätte, aber welches trotzdem im anvisierten Evanescence-Kanon ein absolutes Highlight wäre. Halsey schreit gegen Ende tatsächlich. Nur um sich wenig später mit "Life of the spider" den Zusatz "Draft" redlich zu verdienen, wenn es nur von hallendem Klavier begleitet das Beziehungsdasein mit einer Spinne im Raum vergleicht. "And you jump at the sight of me / You kill me when I least expect it." Natürlich ist das hochdramatisch. Aber gerade in seiner Kargheit verteufelt effektiv.

Die Vielfalt und die durchgehend hohe Qualität sorgen dafür, dass "The great impersonator" trotz seines Umfangs keineswegs zu lang erscheint. Es warten immer wieder neu auftauchende Highlights, immer wieder Tracks, auf die man sich freuen kann – gegen Anfang ist es "Ego", das mit unbändiger Energie als kleiner Rock-Hit durchgeht, am Ende der Titeltrack, der so etwas wie die Kurzzusammenfassung des ganzen Unterfangens darstellt und sogar Humor durchblitzen lässt. Seine Klangtupfer erinnern lustigerweise an Enya (die nicht unter den 18 Personen ist), Halseys Gluckser im Refrain und die sich verdichtende und wieder lockernde Instrumentierung verbinden alles aber zu etwas ganz Eigenem. "Every single truth I sing once started as a lie / But then I redesign / And put myself together like some little Frankenstein." Ist es Halsey? Ist es Ashley Frangipane? Wichtig ist ihr eine Sache: "Hope they spell my name right in the paper." Keine Sorge. Im Gegensatz zu "The great impersonator" habe ich mit Copy & Paste gearbeitet.

(Felix Heinecker)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Dog years
  • Darwinism
  • Lonely is the muse
  • Arsonist
  • The great impersonator

Tracklist

  1. Only living girl in LA
  2. Ego
  3. Dog years
  4. Letter to God (1974)
  5. Panic attack
  6. The end
  7. I believe in magic
  8. Letter to God (1983)
  9. Hometown
  10. I never loved you
  11. Darwinism
  12. Lonely is the muse
  13. Arsonist
  14. Life of the spider (Draft)
  15. Hurt feelings
  16. Lucky
  17. Letter to God (1998)
  18. The great impersonator
Gesamtspielzeit: 66:14 min

Im Forum kommentieren

Felix H

2025-08-28 21:16:43

Da die Tour "Back to Badlands" heißt, wird vermutlich der Fokus auf dem Debüt liegen. Was schade ist.

MickHead

2025-08-28 20:27:50

Tour 2026

January:

23 – Berlin, DE @ Velodrom
24 – Dusseldorf, DE @ Mitsubishi Electric

Felix H

2025-08-23 11:14:44

Höre es auch immer mal wieder, schon toll, wie vielfältig es ist und trotzdem gut zusammenhängt.

Affengitarre

2025-08-23 11:11:51

Mensch, ich finde das Album nach wie vor wirklich großartig. Mittlerweile mag ich es sogar ein gutes Stück mehr als den tollen Vorgänger. Trotz der üppigen Länge bleibt es durch die ganzen verschiedenen Stile sehr unterhaltsam und lässt sich super durchhören.

Mit jedem neuen Durchgang fällt mir allerdings immer mehr auf, wie pechschwarz die Texte über weite Strecken sind. Kein Wunder bei der Vorgeschichte.

MickHead

2025-05-09 19:41:50

Neuer Song mit Amy Lee von Evanescence, vom Film Ballerina.

"Hand That Feeds"

https://www.youtube.com/watch?v=i_cBf-E7n7A

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