
Cassandra Jenkins - My light, my destroyer
Dead Oceans / CargoVÖ: 12.07.2024
Sterne warten
Mitten auf "My light, my destroyer", Cassandra Jenkins' drittem Soloalbum, dürfen wir lauschen, während sich zwei Frauenstimmen über den nächtlichen Sternenhimmel unterhalten. "It's fun to look at the moon through binoculars", meint eine der beiden, begleitet von sachten Klaviertupfern und kosmischem Pluckern. Dann berichtet sie von einem Asteroiden von der Größe eines Wolkenkratzers, der "Samstagnacht" den Raum zwischen Mond und Erde passiert habe. "Did you see it?", fragt ihr Gegenüber, "somebody did", lautet die Antwort. "Betelgeuse" heißt der Track – benannt nach dem Stern in der Konstellation Orion – der als bloßes Interlude daherkommt, vielleicht aber sehr viel mehr bereithält, als es zunächst den Anschein hat. Wie schon auf dem tollen Vorgänger "An overview on phenomenal nature" hat Jenkins auch diesmal das größere Panorama im Blick, spiegelt Persönliches im Planetaren, Alltagsgeschichten in der universalen Perspektive, die eine grundsätzliche Vernetztheit alles Seienden behauptet. Die beiden Stimmen in "Betelgeuse" sprechen freundlich und vertraut miteinander, zugleich im demütigen Bewusstsein, dass da draußen etwas Größeres, Unverfügbares wartet: So formulieren sie beinahe beiläufig das Paradigma des Albums. Regelmäßig wird "My life, my destroyer" von Field Recordings und Ambienteinschüben untermalt, die häufig Orte transitorischen Charakters skizzieren: Zugdurchsagen und Flugbegleiter sind dort zu hören, aber auch banale Alltagsgespräche. Sie stecken einen Bezugspunkt für Jenkins ab, machen den Einfluss der Avantgarde transparent. Zugleich präsentiert "My light, my destroyer" sie so vielseitig wie nie zuvor.
Das liegt nicht zuletzt an der dreifachen Präsenz abgehangen guten Slacker-Rocks: Der aufgerissene Verzerrer von "Clams Casino" lädt zum wiederkehrenden Gitarrensolo, auch die Single "Petco" lässt kurzzeitig das Feedback ausufern. "Outside my window I saw two doves / Wrapped up in filthy and true love / The walls are blushing landlord pink", beginnt Jenkins ihre Erzählung augenzwinkernd, später führt sie ihr Weg in den Haustierladen, wo der kreuzende Blick einer Eidechse als Heilmittel gegen die Einsamkeit wirkt. Und "Aurora, IL" serviert klassische Neil-Young-Akkorde, verwehte Licks und fragile Streicher, die kurz zur Unterstützung funkeln. "The band's gone and I'm late up", seufzt Jenkins, berichtet anschließend von Nachrichten über einen alten Milliardär, der nach seinem Flug ins All bedeutungsschwanger die Farbe Blau nicht mehr aus dem Kopf bekommt. "It's just a thin line between us and nothingness", konstatiert sie mit einem weisen Schulterzucken, bevor das Ich in seine Umgebung kollabiert.
War "An overview on phenomenal nature" noch maßgeblich von Topographien der Pandemie gekennzeichnet – leergefegte Bordsteine, Verunsicherung, ungewöhnliche Routinen –, so entdeckt Jenkins nun die Straßen ihrer Heimatstadt New York neu. Die ozeanische Psychedelik des wunderbaren Downtempo von "Delphinium Blue" pendelt zwischen dem Besuch eines Aquariums und der neuen Arbeit im Blumenladen; der gesprochene Refrain wird von einem griechischen Chor gerahmt und kommentiert. Auch der 80er-Jahre-Sophisti-Pop der eingängigen Single "Only one" – vielleicht so etwas wie Jenkins' erster waschechter Hit – demonstriert die ausgeprägte Offenheit, mit der die Welt hier wahrgenommen und gedeutet wird. Ihre warme und zugewandte Stimme empfängt bereits im Opener "Devotion": "The clock hit me like a hammer" fungiert als Initial munterer Erkundungen, der Kontrabass treibt sanften Prog-Folk voran, bis die Mystikerin Jenkins in einem Bett aus weichen Bläsern landet: "Hair on my skin rose in tongues ancient, unspoken."
Über die wesentliche Funktion der Neugier herrscht in der Ideengeschichte Einigkeit – von Galilei und Einstein über David Bowie. Auch Jenkins zelebriert sie, gerade in der doppelten Struktur aus Senden und Empfängnis. "Omakase", was in der japanischen Kultur und Kulinarik so viel heißt wie "Ich überlasse es Dir", treibt sie zu knisterndem Dream-Pop bis zur Selbstauflösung: "Pull me apart, I wanna see who I am", bittet Jenkins, "one look is all it takes". Saxofon-Fetzen umkreisen ihr Erkenntnisstreben wie kleine blinkende Satelliten. Wie gerne folgt man diesem wachen Blick auf die Welt, durch den magischen Streicherwald des Closers "Hayley" – und darüber hinaus, in unbekannte Gefilde.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Delphinium Blue
- Aurora, IL
- Omakase
- Only one
Tracklist
- Devotion
- Clams Casino
- Delphinium Blue
- Shatner's Theme
- Aurora, IL
- Betelgeuse
- Omakase
- Music??
- Petco
- Attente Téléphonique
- Tape and Tissue
- Only One
- Hayley
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saihttam
2024-11-14 22:38:39
Ich mag das Album, auch wenn bisher nicht so viele Momente hängengeblieben sind wie auf dem Vorgänger. Die viel kritisierten Interludes gefallen mir größtenteils auch und machen für mich einen Teil des Reizes am Album aus.
Live habe ich sie bisher ein Mal gesehen und zwar beim Golden Leaves Festival. Das war schön, aber mir hat ein wenig die Intimität gefehlt. Die Stimme war auch damals sehr leise und wurde leider häufig von quatschenden Menschen in meiner Umgebung übertönt. Ich werde wohl nie verstehen, warum man sich bei Konzerten relativ weit nach vorne stellt, um dann nur konstant zu labern. Ich will dann nicht sofort der Miesepeter sein und Leute ermahnen und versuche meistens über Blicke deutlich zu machen, dass ich genervt bin. Aber oft hat das keinen Effekt und dann ägere ich mich, dass ich nicht direkt was gesagt habe.
Grizzly Adams
2024-11-14 20:04:21
Schade @Unangemeldeter. Ich mag das aktuelle Album wirklich sehr. Schon blöd, wenn eigentlich alles Drumherum stimmt - Ambiente der Location, Vorfreude, Setlist, nahbarer Artist - und der Sound dann schwach ist, so dass das Erlebnis getrübt wird.
Unangemeldeter
2024-11-14 11:47:21
Crosspost vom Konzerte-Thread:
Ich hab mich gestern für Cassandra Jenkins in der Kuppelhalle des Silent Green entschieden - und das war gut, aber auch nicht mehr als das. Die Vorband LYLO haben wir uns gespart, weil wir schon beim Reinhören das Gruseln bekommen haben - ganz schlimmer George-Michael-Gedächtnis-Pop, da muss man schon in Wham!-Bettwäsche schlafen, um das zu ertragen.
Die Kuppelhalle ist wahrscheinlich Berlins schönste Location und war auch gestern stimmungsvoll. Allerdings war der Sound ungewohnt schlecht abgemischt und vor allem der Gesang fast lächerlich leise. Selbst die Ansagen (Cassandra war sichtlich gut gestimmt und in Plauderlaune, das war bei meinem letzten Konzert noch ganz anders) waren teils kaum zu verstehen, einfach rein akustisch. Wenn dann die Band gespielt hat war's natürlich noch schlimmer. Es klang über weite Strecken also wie Karaoke mit einer schüchternen Person - extrem schade.
Positiv war das Saxophon, immer wenn das am Start war, war der Sound direkt 10x geiler. Setlist war auch prima, auch wenn's ziemlich kurz war, was aber auch den Auflagen der Kuppelhalle geschuldet war, denen sich immerhin noch für eine sehr schöne alternative Version von New Bikini widersetzt wurde.
Außerdem war Cassandra nach dem Konzert noch an der Bar und auch da extrem nett und gesprächig, hat mir unerwartet ausgiebig von dem Fotoshoot für das tolle Albumcover erzählt und warum der Mond dort hineingephotoshoppt werden musste. Richtig cool.
Also kein verschenkter Abend, trotzdem werde ich nach den Berichten von Ben Howard das Gefühl nicht los, mich falsch entschieden zu haben...
Unangemeldeter
2024-11-12 15:24:53
Wer ist denn noch morgen im Silent Green? Ich bin ehrlich gesagt ein wenig überrascht, dass das bei dem fairen Preis (25€) und der Location noch nicht ausverkauft ist. Mir blutet das Herz vor allem wegen dem Clash mit Ben Howard, den ich aber einfach schon öfter gesehen habe. Cassandra bislang nur einmal, und da auch nur solo mit Akustikgitarre. Ich hoffe schwer, dass sie morgen eine Band am Start hat.
Habe zu diesem Anlass das neue Album mal wieder laufen lassen und dabei gemerkt, dass ich dazu schon monatelang keine Lust hatte. Es ist ein okayes Album mit ein paar großen Songs - aber die Magie des Vorgängers stellt sich nicht ein. Die Interludes fühlen sich rangepappt und egal an, es gibt Filler (Tape and Tissue z.B.) und viele unspannende Momente. Für mich wäre das Album besser eine konsistente EP geworden.
Grizzly Adams
2024-10-02 19:11:23
Einfach ein tolles Album. Läuft grad wieder. Und bestätigt mich, dass es auf der Jahresbestenliste in die Top 10 bei mir gehört.
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Referenzen
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