The Decemberists - As it ever was, so it will be again
YABB / Thirty Tigers / MembranVÖ: 14.06.2024
Spiel den gleichen Song noch mal
The Decemberists machen schon so lange Musik, dass die erste Plattenkritik in unserem Archiv noch mit einem "Daß" began. Satte acht Studioalben, ein Dutzend EPs und Live-Alben und zahlreiche Nebenprojekte haben die umtriebigen Folk-Vagabunden seitdem aus dem Hemdsärmel geschüttelt – ein Qualitätsabfall nicht in Sicht. Dabei führten uns die Geschichtenerzähler*innen aus Portland in die Schützengräben des Ersten Weltkriegs, tief in die japanische Mythologie und in den Bauch eines Wals. Wenn kurz vor dem 25. Jubiläum nun ihr erstes (beabsichtigtes) Doppelalbum "As it ever was, so it will be again" erscheint, kann die Frage also nur lauten: Wohin geht die Reise dieses Mal?
Für einen Teil des Albums ist diese Frage relativ einfach beantwortet, auch wenn man das Pferd dafür von hinten aufzäumen muss. Denn der letzte Song "Joan in the garden" ist der typische Decemberists-Wahnsinn in Form eines Phasen durchlaufenden 19-Minüters. Der beginnt zauberhaft mit einer verliebten Gitarrenmelodie und Chor, die der Protagonistin beim Aufstieg helfen und etwas Sakrales haben. Bis der Berg zum Klang von schreienden Gitarren von einem Schatten bedeckt wird, weil sich alles zusammenzieht: "Just another tinsel ornament / Another troubled sky / We are folded in the firmament / Catch us as we fly." Dann nur Lamentieren, Störgeräusche, bis nach nervenzehrenden Momenten der Blitzeinschlag folgt. Ein Riff und Drums und plötzlich Galopp in Richtung der Autokraten, deren Imperien fallen müssen. Ja, "Joan in the garden" ist Sänger Colin Meloys Version von Jeanne d'Arc, und das Blut wird in Strömen fließen: "Oh holy whore androgyne!" Unterstützung gibt es hierbei auch noch von Mike Mills von R.E.M.. Wer hiermit nichts anfangen kann, mochte The Decemberists vermutlich nie.
In den anderen zwölf Stücke auf dem ersten Album seit sechs Jahren geht es wesentlich geradliniger zur Sache. Da wird in einem Pop-Song, der klanglich auch in die Sechziger passen würde, der "Burial ground" mit James Mercer von The Shins besucht, weil der Rest der Welt keinen Sinn zu ergeben scheint. "Oh no!" tanzt mit dem Teufel zu Trompeten Danzón in Havanna. Näher an den letzten Alben sind die Folk-Songs "Long white veil" und "William Fitzwilliam", die vom Grundnaturell komplett amerikanisch sind und dementsprechend auch nach – Überraschung – Americana klingen und sich auch mit Steel Pedal und Mundharmonika arrangieren. "Don't go to the woods" führt die musikalische Reise fort und bietet Geleitschutz durch die düstere Nacht irgendwo im verlorenen Teil der USA, aber mahnt: "Darling stay right close to me / Do just as you should / For if you go in their company / Oh then you're gone for good." Jenny Conlee-Drizos mit ihren geisterhaften Backingvocals sorgt für Gänsehaut. Genauso wie im anschließenden "The Black Maria", das zu Trauer blasenden Trompeten von einem Schicksal erzählt, das jeden am Ende ereilt.
"As it ever was, so it will be again" ist in vier Bündel verpackt und gönnt sich vor dem epischen Finale im dritten Akt noch mal etwas Auflockerung. "All I want is you" ist ein im besten Sinne einfaches Liebeslied, das man ganz schnell im Kopf mit einem Menschen verknüpft bekommt, den man sehr gern hat. Hier darf man eine kleine Glücksträne weinen. Ein akustischer Ausreißer ist "Born to the morning", das klingt, als ob man die Stimme durch ein Dosentelefon aufgenommen hätte. Dieses Experiment hätte gut auf "I'll be your girl" gepasst. Der einzige der 13 Songs, den man wollen muss. Das paradierende "America made me" ist hingegen das, was die Kids heute ein wenig "delulu" nennen würden. Klavier, Trompete und Gesang sind im vollen Bandmodus und lassen sich gerne von Amerika benutzen und die Tür eintreten. Das erinnert dann an "16 military wives" vom herausragenden "Picaresque".
Sowieso scheuen sich The Decemberists nicht davor, alte Melodien aufzugreifen und neu zu verarbeiten. Und selbst wenn "What's on your mind" mit einem Basslauf anfängt und ein bisschen wie The Doors klingt, sind da eben immer noch Meloys helle Stimme und ein auflösender Refrain, und schon weiß man wieder, in wessen Kosmos man sich befindet. Bei The Decemberists hatte man nie das Gefühl, dass sie nur so hoch springen, wie sie müssen. Und selbst wenn, wäre ihre eigene Messlatte so hoch, dass sie den Großteil der verwandten Bands lachend überspringen würden. Ihr neuntes Album klingt vielleicht nicht neu, dafür zeigt es all die Nuancen und Details, für die diese überragende Band jedes Mal wieder tosenden Applaus verdient hat. Schön, daß man das noch erleben darf.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Oh no!
- Don't go to the woods
- All I want is you
- Joan in the garden
Tracklist
- Burial ground
- Oh no!
- The reapers
- Long white veil
- William Fitzwilliam
- Don't go to the woods
- The Black Maria
- All I want is you
- Born to the morning
- America made me
- What's on your mind
- Never satisfied
- Joan in the garden
Im Forum kommentieren
Arne L.
2024-08-23 22:01:08
Ich hab völlig verdrängt, dass dieses Album erschienen ist. Und ich hab den Text geschrieben, wow.
berti
2024-08-23 21:49:56
Meist aufgelegtes Album of the year so far
The Libertine
2024-07-16 11:51:57
Würde auch fast sagen, das es eines ihrer Top 3 Alben ist. Vielleicht sogar das Beste nach Picaresque. Warum? Weil die Songs durchweg stark sind, es alle Stärken und Stile der Band ausstellt und dabei auch noch homogen wirkt.
Landet in den Top 10 am Ende des Jahres, da bin ich ziemlich sicher. Schade irgendwie das sie hier nicht mehr Hype erzeugen. Mir fällt aktuell keine Gruppe aus dem Americane/Country/Folk Segment ein, die derart eigenständig ist und dabei so wundervolle Popsongs schreibt.
berti
2024-06-29 13:44:30
Nach mehrfachem Hören bin ich fast geneigt zu sagen ihr bestes Album :-O. Auf jeden Fall ganz fantastisch
kingsuede
2024-06-26 17:44:35
Vinyl ist eingetroffen. Das ist exakt mein Beuteschema. Mal schauen, wie groß die Halbwertzeit ist.
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