Pearl Jam - Dark matter

Republic / Universal
VÖ: 19.04.2024
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10
9/10

Haltet die Stellung

Es ist Tradition, in Rezensionen zu Pearl Jam einleitend die aktuelle Lage im Weißen Haus zu beleuchten – zumal "Dark matter", Album Nummer zwölf, wie schon "Gigaton" in einem US-Wahljahr erscheint. Joe Biden hat sich anders als sein Vorgänger nicht als egomanischer Irrer erwiesen, der Demokrat bietet ein weniger offensichtliches Feindbild für die schon immer eindeutig positionierte Band. Nimmt man den Albumtitel jedoch wörtlich, finden Pearl Jam weiterhin wenig Gutes an der Gesamtsituation, malen den Zustand der Welt in dichtem Schwarz: "It's strange these days / When everybody else pays / For someone else's mistake / ... / Drain the blood from our hearts / In all of this dark matter." Dazu hat sich die Band wieder kratzigeren Gitarren zugewandt, Eddie Vedder bellt seinen Unmut voller Überzeugung heraus – Pearl Jam, die Grande Dame des Alternative Rock, hat keine Lust auf altersmilde Gesten oder bloßes Wiederkäuen von bereits Dagewesenem. Das in nur drei Wochen mit Andrew Watt aufgenommene "Dark matter" ist ein lautes Album geworden, trotzdem weniger Bauchplatte als zum Beispiel "Backspacer". Stattdessen setzt es die ausgewogene Balance von "Gigaton" konsequent fort, ohne in dessen teils meditative Tiefen vorzustoßen.

Die Paar-Akkorde-Punk-Nummer "Running" ist weniger exemplarisch für die noch immer brodelnde Unzufriedenheit der einstigen Grunge-Legenden. Vielmehr kaschiert Vedder die Missstände, anstatt sie offen anzuprangern, kleidet die Thematik in "Wreckage" in gut abgehangenes, melancholisches Midtempo und nicht immer eindeutige Sprachbilder vom Schreiten durch die Trümmer – dies ist einer von vier Songs, die die Fünf-Minuten-Marke reißen. Auch rhythmische Experimente à la "Dance of the clairvoyants" sind auf "Dark matter" nicht vorzufinden, gleichzeitig sind Pearl Jam vom Vorwurf des hemdsärmeligen Altherrenrocks weiterhin mehrere Legislaturperioden entfernt. "Scared of fear" gibt den konventionell-klassischen Opener, der sich durch eine eingängige Melodie auszeichnet wie zahlreiche vor ihm. Bereits "React, respond" aber wagt sich aus der Komfortzone hervor, Vedder brüllt gegen zackige Garage-Riffs an, Mike McCready schreddert den Song schließlich in Grund und Boden. Wie auch im Titeltrack wirken die Rock-Gesten hier keinesfalls wie erzwungene Manierismen. Der Seattle-Fünfer hat schlicht noch mal Bock.

Im Mittelteil unternehmen Pearl Jam eine subtile Zeitreise: "Upper hand" führt über ein proggiges Intro in ein ausgiebiges Epos, das sich später einer befreienden Ekstase hingibt. Punk und Minimalismus wandern in den Hintergrund, wenn "Waiting for Stevie" tatsächlich ein bisschen so klingt, als würde Chris Cornell über einen episch-verwaschenen Backing-Track aus seligen "Ten"-Zeiten singen: "You can be loved by everyone / And not feel love" – ungeachtet der politischen Lage der Nation bleibt die Bedrohung von Innen jederzeit bestehen, dieser beste Song des Albums ist der mentalen Gesundheit gewidmet. Hier und zum Ende hin machen Pearl Jam genau das, was sie am besten können: Hymnen gegen Isolation und Vereinzelung, die wohlwollend in Richtung Kitsch nicken, ihm aber immer wieder entgehen. "I'll be the last one standing / I'll be the first to forgive", beschwört Vedder in "Got to give" schließlich das alte Wir-gegen-die-Welt-Gefühl, feiert den Zusammenhalt, wiederholt die vertraute Message: We're still alive. Und die Musik unterstreicht diesen Rückgriff auf das unverwüstliche, dreißig Jahre alte Credo mit Bravour.

Freilich sind Pearl Jam auf ihre Art ein Legacy-Act und erschließen sich womöglich kein neues, vor allem kein jüngeres Publikum mehr – und wenn doch, dann machen die so was. Die Berliner Wuhlheide ist bis in alle Ewigkeit für die gesetzten Herren und ihre Heerscharen von Fans reserviert, die Band hält die Stellung und erwartet von ihrem Publikum das Gleiche, egal wie schwer die Zeiten auch anmuten mögen. In diesem Sinne beschließt mit "Setting sun" eine zunächst besinnliche, später ausbrechende Durchhalteparole das Album. Weil am Ende natürlich alles gut sein wird. Es muss. Aber da sind Pearl Jam noch lange nicht angekommen. "And when it gets fucked up / You need a helping hand", singt Vedder zwischendrin im schunkelnden, wärmenden "Something special". Genau dafür ist diese Band schließlich da. Ist "Dark matter" das beste Pearl-Jam-Album, wie er im Vorfeld ungewohnt großspurig ankündigte? Bei weitem nicht. Aber wie immer ein sehr gutes.

(Ralf Hoff)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • React, respond
  • Dark matter
  • Waiting for Stevie
  • Got to give

Tracklist

  1. Scared of fear
  2. React, respond
  3. Wreckage
  4. Dark matter
  5. Won't tell
  6. Upper hand
  7. Waiting for Stevie
  8. Running
  9. Something special
  10. Got to give
  11. Setting sun
Gesamtspielzeit: 48:20 min

Im Forum kommentieren

fuzzmyass

2024-09-06 13:10:04

Ja, der Drumsound ist ziemlich phänomenal

Affengitarre

2024-09-06 13:01:41

dennoch sind mir auf jenem die Drums einen Zacken zu sehr im Zentrum des Geschehens

Hehe, ich finde auch das macht die "Vs." zu ihrem besten Album.

Christopher

2024-09-06 01:32:21

"Vs." ist noch sehr poliert, aber lässt schon deutlich mehr Raum für Krach als "Ten", das noch sehr nach 80er-Rock klang - wobei ich den Sound von "Ten" echt mag, er hat so etwas Erhabenes.

Die 3 nach "Vs." ähneln sich dann im Sound, sie sind rauh, teils auch ziemlich schludrig, aber ich mag das sehr. Passt gut zu ihrem damaligen Stil.

"Binaural" ist großartig bei den ruhigeren Songs wie "Sleight of hand" oder "Nothing as it seems". Die Rocker klingen dagegen etwas langweilig, fast schon uninspiriert.

Bei "Riot act" haben sie dann nochmal wirklich experimentiert, bzgl. Sound ist es wahrscheinlich ihr uneinheitlichstes Album. Jeder Song hat einen ganz spezifischen Klang. Auch das passt sehr gut zum Album, da es auch ein wenig "all over the place" ist.

Die Avocado ist dann das erste Album, das mir soundtechnisch gar nix gibt. Klingt alles etwas glattgebügelt. Die zwei danach sind ähnlich, da sind aber auch einfach die Songs nicht besonders gut.

"Gigaton" hatte dann wieder einige wirklich großartige Momente, auch wenn man hier schon deutlich merkt, dass der Sound moderner wird. Ein bisschen Luft zum Atmen gibts aber noch.

Naja, und "Dark matter" klingt für mich halt... anstrengend. Das Schlagzeug zischt und patscht, die Gitarren klingen teils gar nicht wie Gitarren und auf Eddies Stimme liegt oft so ein komischer Effekt. Für mich "overengineered", da wäre evtl. weniger einfach mehr gewesen. Finde das Album auch nicht schlimm, sondern einfach nur mittelmäßig. "Gigaton" mochte ich lieber.

boneless

2024-09-05 23:05:26

Die hätte ich als Paradebeispiel angeführt und die ist auch mit Abstand das PJ Album, welches am besten produziert wurde, dennoch sind mir auf jenem die Drums einen Zacken zu sehr im Zentrum des Geschehens. Macht natürlich mächtig Druck und ist auch nur ein kleiner Kritikpunkt, aber ja... obwohl ich gerade das auch an Vs. liebe. Es ist schwierig. :D

fuzzmyass

2024-09-05 23:00:47

"Mal davon abgesehen, dass bei Licht betrachtet, kein einziges PJ Album optimal produziert wurde"

Also in meinen Ohren ist Vs. ein granatenmäßig produziertes Album

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