Björk - Selmasongs
Polydor / UniversalVÖ: 18.09.2000
Mit den Ohren sehen
Eigentlich sollte Björk Gudmundsdottir für den Film "Dancer in the dark" von Lars von Trier, der mit "Breaking the waves" und "Idioten" bekannt wurde, nur die Musik komponieren. Ein Jahr lang hat der Regisseur schließlich gebraucht, um sie zu überzeugen, die Hauptrolle zu übernehmen. Im Mai 2000 wurde "Dancer in the dark" bei den Filmfestspielen in Cannes mit der Goldenen Palme ausgezeichnet und Björk bekam für ihr Debüt auf der großen Leinwand den Preis für die beste Schauspielerin. Björk spielt die tschechische Immigrantin Selma, die in den Sechzigern in den USA mit einer Augenkrankheit zu kämpfen hat, die zur Erblindung führen wird. Ihr Sohn leidet an derselben Krankheit und Selma versucht alles, um ihr das schreckliche Schicksal zu ersparen. "Selmasongs" enthält alle im Film gespielten Songs und ist gleichzeitig Björks viertes Soloalbum.
Björks Hang zum Experimentellen und ihr gleichzeitig geschicktes Spiel mit der eher unspektakulären Gattung Musical machen aus dieser CD mehr als nur einen Soundtrack. Klassische Orchesterparts sind ebenso häufig zu entdecken wie beim ersten Hören recht fremde, industrielle Geräusche. Doch wie auch schon bei den Alben "Post" (1995) und vor allem bei "Homogenic" (1997) verbinden sich beide, eigentlich gegensätzliche Sounds zu einem einheitlichen Klangteppich. Björks einzigartige Stimme leistet dabei einen weiteren erheblichen Teil. Geräusche wurden in Musik umgesetzt und im Kopf des Hörers entstehen dabei Bilder, auch ohne daß man den Film kennt. Der Track "In the musicals" beginnt mit noch nie vernommenen Baßrhythmen, die, je genauer man hinhört, immer deutlicher zu den Geräuschen werden, die ein Ball macht, wenn man ihn auf hartem Boden dribbelt. Später kommen quietschende Schuhe und das Schaben von Kreide auf einer Tafel dazu, während man im Hintergrund stets das für Musicals typische Orchester hört.
Den größten Teil der Songs hat Björk nach dem Filmdreh geschrieben. "I've seen it all", ein Duett mit Radiohead-Sänger Thom Yorke, war dabei der erste Song, der entstand. Das gleichmäßige Klappern alter Waggons auf den Eisenbahnschienen bildet den Rhythmus. Ganz wie in konventionellen Musicals ist der Song ein Dialog. Es geht darum, was man auf der Welt schon gesehen hat und was nicht. Auch hier greift sie also ein Motiv aus dem Film auf, denn Selma erblindet und Musik wird immer und immer wichtiger für sie und ihre neue "Traumwelt". Was sich jetzt allerdings wenig überzeugend, albern oder trostlos anhören kann, bekommt durch Björks Stimme Intensivität und Präsenz eingeflößt. Ein weiteres Duett gibt es mit "Cvalda". Dort hört man Catherine Deneuve, die auch im Film zu bewundern ist. Und auch hier finden sich wieder gleichtöniges Klappern, Rattern, Stampfen von Maschinen, Bohrgeräusche, die sich nach einer Minute zum treibenden Beat verbinden. Dann singt Björk, schreit bisweilen hemmungslos, unterstützt von einem kompletten Orchester, Streicher, Trompeten, Chor, einfach alles was man sich vorstellen kann. Langeweile kommt dabei garantiert nicht auf. Björk, die schon auf "Post" den alten Musicalsong "It's oh so quiet" gecovert hatte, versammelt daneben aber auch ruhigere Töne: in "New world" oder "Smith & Wesson (Scatter heart)" sind ambiente Klangwolken zu vernehmen.
Beim ersten Hören ist "Selmasongs" sicherlich schwerer Stoff. Für den Massengeschmack ist Björk sowieso untauglich, doch gerade das ist es, was sie und die Songs so anziehend und einzigartig, fast genial macht. Der herkömmliche, manchmal als langweilig empfundene Musicalsound wird durch zeitgemäße, computergenerierte Sounds aufgemöbelt. Das Wort Klangkosmos ist bei Björk keine leere Floskel, sondern Realität. Und obwohl die Tracks eng an den Film und dessen Handlung gebunden sind, ist die CD auch ohne dessen visuelle Begleitung unbedingt empfehlenswert.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Cvalda
- I've seen it all
- In the musicals
Tracklist
- Overture
- Cvalda
- I've seen it all
- Smith & Wesson (Scatter heart)
- In the musicals
- 107 steps
- New world
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