
Chelsea Wolfe - She reaches out to she reaches out to she
Loma Vista / Concord / UniversalVÖ: 09.02.2024
Drei im blauen Kreis
Unter all den prägenden Künstlerinnen und Künstlern der vergangenen 15 Jahre gehört Chelsea Wolfe sicher zu den ungreifbarsten. Dass die Frau als Mensch in Kalifornien lebt und nicht erst in irgendwelchen Tempelgruften heraufbeschworen werden muss, verwundert auch deshalb, weil ihr selbstinszenatorisches Geschick den eigenen Mythos köcheln lässt. Doch sowohl Wolfes Musik als auch ihre Persona weisen weit über unterkomplexe Gothic-Klischees hinaus, was nicht zuletzt die bodennahen Fäkalienwälzereien ihres Projekts Mrs. Piss bewiesen. So reckt sie auf dem Cover ihrer siebten Platte keine Opfermesser in die Luft oder versinkt in unendlichen Abgründen, sondern hüllt sich in Joni-Mitchell-Blau und verbildlicht die Zirkularität des Albumtitels "She reaches out to she reaches out to she". Vergangenes, gegenwärtiges und zukünftiges Ich der Künstlerin reichen sich die Hand und suchen nach der absoluten Einheit ihres Seins. Zwischen Dark Folk, Industrial und diversen Metal-Annäherungen hat Wolfe schon viel ausprobiert, eine ewige Konstante zieht sich jedoch durch ihr Schaffen, die auch im Jahr 2024 Bestand hat: Unter "Album des Jahres"-würdiger Höchstklasse zuckt sie nicht einmal mit dem tätowierten Finger.
Im einleitenden "Whispers in the echo chamber" hinterlässt sogar das bisher größte Meisterwerk "Abyss" die deutlichsten Spuren. Der Beat stampft durch todesverzerrte Schluchten, Trent Reznor verschluckt sich am Flüssigstahltee und nicht einmal Wolfes ASMR-Vocals können den Totalkollaps am Ende abmildern, aus dessen Trümmern nur ein paar verdreckte Riffs an die Oberfläche dringen. "House of self-undoing" setzt in Sachen Wucht sogar noch einen drauf, peitscht als tonnenschwerer Post-Punk durch die Nacht und brennt eine wundervoll schlingernde Melodie auf die Straße. Eine unnachahmlich intensive, aber auch irreführende Albumeröffnung: Zwar ist der Akustikfokus von "Birth of violence" erstmal wieder passé, doch bleibt "She reaches out to she reaches out to she" in den weniger brachialen Ecken von Wolfes Stilspektrum und spachtelt sich dort seinen vielschichtigen, elektronisch grundierten Mitternachts-Art-Pop zusammen. Dass dieser eine genauso einnehmende Faszination ausstrahlt wie die von den Füßen reißenden Band-Ausbrüche, sollte selbsterklärend sein.
Zumal die zehn Songs die Reduktion des Vorgängers keineswegs fortführen, sondern sich dicht mit einer Vielzahl von Produktions- und Arrangementdetails behängen. Wenn "Everything turns blue" seinen von Gitarrenschleiern und kaputten Strobolichtern begleiteten Höhenflug plötzlich abdreht, klingt das, als würde jeder Ton von der Erde verschwinden. Es ist nicht der einzige Track mit einer erschütternden Laut-Leise-Dynamik: Der derangierte TripHop von "Tunnel lights" bricht zu Piano-Stottern zusammen, nur um den Puls mit erhöhter Magnitude wieder aufzunehmen, ehe das um die eingängigste Hook des Albums gebaute "The liminal" am Ende die Feedback-Maschine anschmeißt. Im Kontrast dazu bezieht "Eyes like nightshade" seine Genialität aus einem von Anfang an komplett lichtundurchlässigen Percussion-Dschungel. Zerhackte Beats, Schellenkränze und Blasinstrumente verschlingen sich gegenseitig, als hätte Wolfe Björks Pilznetzwerk gehackt.
Sich zu fragmentieren und wieder neu zusammenzusetzen, ist das Hauptmotiv von "She reaches out to she reaches out to she". Musikalisch entstanden die erst mit Band eingespielten, dann gemeinsam mit Shawn Everett und TV On The Radios Dave Sitek dekonstruierten Songs genau so, und auch textlich legt Wolfe alte Wunden offen, um ein heilendes Wachstum zu provozieren. Gerade der Albumabschluss macht die Konturen der Transformation besonders greifbar. "Place in the sun" täuscht eine Pianoballade an, bevor Synth-Streicher und Hyperpop-Glitches an den Rändern zerren und eine geometrisch nicht messbare Wohlklangsskulptur daraus formen. Das abschließende "Dusk" drückt mit zunehmender Laufzeit immer tiefer ins Fleisch, um im transzendentalen Finale nicht nur den Griff zu lockern, sondern gleich alle Körpergrenzen aufzulösen. Dass Musik so eigenständig, so bewusstseinserweiternd, so auf jeder Ebene phänomenal sein kann, ist genau wie Chelsea Wolfe selbst: mehr als nur ein Mythos.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Whispers in the echo chamber
- House of self-undoing
- Eyes like nightshade
- Dusk
Tracklist
- Whispers in the echo chamber
- House of self-undoing
- Everything turns blue
- Tunnel lights
- The liminal
- Eyes like nightshade
- Salt
- Unseen world
- Place in the sun
- Dusk
Im Forum kommentieren
nagolny
2025-03-20 19:39:24
Das Album vermittelt ähnliche vibes wie Portishead ("Third"), Nine Inch Nails, Tricky, The Notwist, Björk, Rose Kemp, Bright Eyes ("Digital Ash In a Digital Urn"), Ulver ("Perdition City") finde ich. Das ist natürlich eine interessante Mischung für jemanden wie mich. Ziemlich kühl und dunkel, ätherisch und innerlich im Sound, manchmal gar hypnotisch und trippig; so passt es dann natürlich perfekt zum Cover-Artwork. Ja, diese Musik hat was, ist sehr stimmungsvoll instrumentiert und produziert, aber bleibt mitunter doch etwas distanziert. Bewerten mag ich das (zumindest noch) nicht. Ich bin noch dabei, mich nach und nach tiefer einzuhören. Das könnte einer dieser grower werden...
Mawi09
2024-11-17 12:05:26
Die Unbound EP ist jetzt draußen. Ich finde sie großartig, da wünscht man sich sie hätte das ganze Album nochmal so aufgenommen. Auch weil die Songs sich teilweise recht stark verändern. Das Spiritbox Cover hätte ich kaum erkannt, wenn ich es nicht gewusst hätte. Sie hat daraus es was ganz eigenes, melancholisches gemacht.
Mawi09
2024-10-15 22:19:42
Si wird spiritbox covern? Das ist unerwartet, aber der Song ist toll.
Diese EP interessiert mich jedenfalls deutlich mehr als die davor, das originale Album ist großartig und ich liebe sie auch in reduzierten Settings. Der erste Song auf Youtube ist super schön.
MickHead
2024-10-15 19:47:38
"Undone" EP erscheint am 15.11.
On forthcoming EP Unbound, Wolfe strips down songs from She Reaches Out To She Reaches Out To She to their raw essence – just her voice, a guitar, or piano. This follows the previous EP, Undone, which featured remixes from the likes of ††† (Crosses), Full of Hell, Justin K Broadrick (Godflesh), Boy Harsher, and more.
Erster Song " Place In The Un (Unwound)
https://youtu.be/Sa37foVGI84?si=q_uliMj665HwqUAw
Tracklist:
01 Whispers In The Echo Chamber (Unbound)
02 Dusk (Unbound)
03 The Liminal (Unbound)
04 Place In The Sun (Unbound)
05 Cellar Door (Spiritbox Cover)
Randwer
2024-08-29 18:49:11
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