Madness - Theatre of the absurd presents c'est la vie
BMG / WarnerVÖ: 17.11.2023
The heavy Beckett monster sound
"Haben die auch ein zweites Lied?", wurde der Rezensent von einer Freundin gefragt, als jüngst von der Band Madness die Rede war. Während es hierzulande nur "Our house" ins kollektive Popmusikgedächtnis geschafft hat, gehört die Londoner Formation um Frontmann Graham "Suggs" McPherson in ihrer britischen Heimat bis heute zu den beliebtesten und mit stolzen 16 Top-Ten-Hits auch erfolgreichsten Bands des Landes. Vor allem in der ersten Hälfte der Achtzigerjahre reüssierten Madness mit Krachern wie "Baggy trousers" und "House of fun" und einer zunehmend poppigeren Ausprägung von Ska. Im Gegensatz zu ihren politischer ausgerichteten Kollegen von The Specials und The Beat, stand bei Suggs & Co. seinerzeit oftmals überdreht juvenile Lebenslust im Zentrum der Songs. Nach Trennung und vornehmlich Live-Reunions in den Neunzigern, hatte anno 2009 wohl kaum mehr jemand aufregende neue Musik von Madness erwartet, als die Herren mit einem Konzeptalbum, nämlich der großartigen London-Hommage "The liberty of Norton Folgate", womöglich ihr Opus Magnum veröffentlichten.
Es folgten zwei eher dudelige Platten in den Zehnerjahren und viele Jahre später ist es nun mit dem arg sperrig betitelten "Theatre of the absurd presents c'est la vie" erneut ein Konzeptalbum, mit dem Madness aufhorchen lassen. Lose strukturiert in drei Akte plus Prolog und Epilog, die jeweils mit einem kurzen Spoken-Word-Beitrag von Martin "Bilbo Beutlin" Freeman eingeleitet werden, deuten Madness gesellschaftspolitische Erfahrungen von sozialer Ungleichheit über Brexit bis COVID als düster absurdes Theaterstück. "Die ganze Welt ist eine Bühne"; das wusste ja bereits William Shakespeare und Conferencier Suggs präzisiert die Art der Aufführung im angemessen musicalhaften Quasi-Opener "Theatre of the absurd" als "the last and only performance of the cruelest cabaret". Vor allem Daniel Woodgates funky Drums und Mike Barsons heulende Orgel machen das folgende, ungeheuer treibende "If I go mad" zu einem frühen Highlight.
Madness widmen dieses Album in den Liner Notes dem im Dezember 2022 verstorbenen The-Specials-Frontmann Terry Hall. Und auch mehrere der neuen Songs wie etwa das entspannte Teiltitelstück "C'est la vie" atmen den Geist von The Specials, mit von trockenem Humor geprägten Texten zwischen Wut und Resignation. Die Corona-Epidemie und ihre Begleiterscheinungen "with masks but no real plot" sind unterschiedlich explizit Thema gleich mehrerer Tracks. Im fulminanten, gleichzeitig düsteren und schmissigen "Lockdown and frackoff" erinnern herrlich pointierte Zeilen wie "Curtain twitch / Get ready to snitch" an das Phänomen des Lockdown-Denunziantentums. Aber auch Saxofonist Lee Thompsons darf mal ran und steuert den Sprechgesang zu "What on earth is it (you take us for)" bei und spuckt mit hörbarer Lust grimmige Zeilen über Social-Media-Kultur aus, die in einem ultimativen Ratschlag münden: "Just pull the fucking plug out from its connector!"
Musikalisch ist die Madness-DNA voller fetter Bläsersätze und Rocksteady-Beat durchgehend unverkennbar. Auf seinem ersten selbstproduzierten Album wagt sich das Sextett jedoch mit dem Paranoia-Groove von "Run for your life" auch an Soul Funk à la Curtis Mayfield sowie lupenreinen Synth-Pop in "The law according to Dr. Kippah". Ob es den Yacht-Rock von "Beginners 101" unbedingt gebraucht hätte, würden vielleicht nicht alle bejahen. Hier wie an manch anderer Stelle hätte eine etwas konzisere Tracklist zu einem noch besseren Gesamteindruck verholfen. Den allerbesten Song hebt sich die Band jedoch bis ganz zum Schluss auf: Das sehr dynamisch arrangierte "In my street" lässt zwischenzeitlich Klavier und Bläser jazzig eskalieren und wirkt lyrisch wie ein später Blick nach draußen vor die Tür des heimeligen "house in the middle of a street". Der Song ist dabei gleichzeitig Hommage und Abgesang auf eine bunte, vielfältige Community, deren Sehnsucht nach Veränderung letztlich unerfüllt bleibt.
Highlights & Tracklist
Highlights
- If I go mad
- Run for your life
- In my street
Tracklist
- Prologue: "Mr. Beckett Sir..."
- Theatre of the absurd
- If I go mad
- Baby burglar
- Act one: "Surrounded on all sides.."
- C'est la vie
- What on earth is it (you take me for?)
- Hour of need
- Act two: "The damsel in distress..."
- Round we go
- Act three: "The situation deteriorates..."
- Lockdown and frack off
- Beginners 101
- Is there anybody out there?
- The law according to Dr. Kippah
- Epilogue: "And so ladies and gentlemen..."
- Run for your life
- Set me free (Let me be)
- In my street
- Fin.: "Ladies and gentlemen.."
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fakeboy
2023-12-30 19:17:44
Hab kurz ins neue Album reingehört - hat für mich gar nichts mit früheren Grosstaten zu tun. Ziemlich belanglos.
Guzica
2023-12-30 18:08:48
Ich muss mal reinhören. Was die in den 80ern abgeliefert haben, war legendär. Cardiac Arrest, Our House, Baggy Trousers, Driving in My Car - ein Hit nach dem anderen.
afromme
2023-12-28 22:17:48
Okay, ich muss glaube ich mal wieder reinhören :-)
Rochen
2023-12-28 14:36:18
Also ich finde "Wonderful" deutlich mehr als nur "okayyyyy". Da sind einige starke Songs drauf und eigentlich auch keine Tiefpunkte.
afromme
2023-12-28 09:49:04
@Lichtgestalt
"Michael Caine" war seinerzeit auf WDR2 ein Radiohit mit viel Airplay (insbesondere durch die wöchentliche Hörercharts-Sendung "Schlagerrallye" - ja, die Sendung hieß wirklich so), dadurch kam ich erst auf die Band.
Ohhh - die Schlagerrallye. Mit Wolfgang Roth!
Ich habe die Band immer wieder mal zwischenzeitlich aus den Augen verloren, zumal urbritischer Pop jenseits von Oasisblurpulp hierzulande (inkl. PT) weitestgehend auf Ignoranz stößt.
Fairnesshalber... Madness haben es sich auch nicht leicht gemacht, vor allem außethalb UK. Quasi aufgelöst nach Mad Not Mad, dann ein meh-Album ohne Barson, Woodgate und Bedford aber unter dem Namen The Madness. Dann ganz viele Livekonzerte als Septett wieder ab 1992, aber nur in UK. Dann - 7 Jahre nach Reunion, 11 Jahre nach The Madness, 14 Jahre nach Mad not Mad - ein okayyyyyes Album. Dann wieder nur Liveauftritte in UK. Ich bin in der Zeit um 1998 so richtig auf Madness aufmerksam geworden - dank der "Divine"-Sammlung. Und war dann im Auslandssemester happy, dass sie um Weihnachten rum immer eine UK-Tour gemacht haben, auf der ich sie dann 2002 gesehen habe.
Dann kam 2005 - sechs Jahre nach Wonderful - eine eher mäßige Coversammlung. Und dann, vier Jahre später, aus dem Nichts, The Liberty of Norton Folgate. Seitdem habe ich sie noch 2x gesehen - einmal in Dublin, zuletzt letztes Jahr in Hamburg. Ich muss aber zugeben, dass das Konzert in Hamburg schon... eher schwach war, nicht nur im Vergleich zu den beiden grpßartigen Konzerten vorher.
Deshalb war ich auch etwas skeptisch beim neuen Album, freue mich aber, dass es recht stark geraten ist. Nicht auf dem Level von Norton Folgate, aber das zu erwarten wäre vermessen.
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