The Rolling Stones - Hackney diamonds

Polydor / Universal
VÖ: 20.10.2023
Unsere Bewertung: 6/10
6/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10
8/10

Und wenn sie nicht gestorben sind ...

Wie soll man einen Bewertungsmaßstab für diese Band finden? Die völlig überzogen Erwartungen, die schon vor Erscheinen des Albums klar positioniert sind, dass es auf jeden Fall grottig oder großartig wird – und vom eigenen (Vor-)Urteil lässt man sich dann nur noch ungern vom wirklichen Höreindruck korrigieren! Oder die Stones selbst, die mittlerweile so viel Material angehäuft haben, dass man jeden Song auf "Hackney diamonds" in ein Jahrzehnt wegsortieren könnte, wo das so ähnlich schon mal besser aufgenommen wurde. Und ist es ist nicht unfair, die alternden Herren mit ihren jugendlichen Antipoden zu vergleichen? Aber das machen sie im Video zu "Angry" ja schon selbst. Worauf sich wahrscheinlich alle einigen können: "Hackney diamonds" ist kein neues "Exile on Main St." geworden, aber eben auch keine unterirdische Zeitgeist-Anbiederung wie "Undercover". Wie, hätte man damals gedacht, würden die achtzigjährigen Stones klingen, wenn sie 2023 noch ein Album veröffentlichen würden? Den meisten wäre wohl keine Scheibe in den Sinn gekommen, die auch nur annähernd so klingt wie die nun vorliegende. Mit dem nicht gerade starken "Blue & lonesome" hatten viele schon den Eindruck, jetzt geht's aufs Altenteil.

Natürlich rollt vor den Stones die größte denkbare Marketingmaschinerie los, noch bevor überhaupt ein Ton zu hören ist. Diesmal ruft Jagger seine Hassliebe Richards an, sie müssen jetzt aufnehmen (mit Deadline!), weil die neuen Songs so heiß sind, die Jagger im Köcher hat. Kaum im Studio, nimmt Lady Gaga zufällig nebenan auf, kommt vorbei und singt spontan (!) mit. Ja so passiert das halt in der Welt der Rolling Stones. Das Getöse kann man links liegen lassen, wenn die Musik stimmt. Wenn Jagger und Richards es schaffen, ein Album hinzuzimmern, dass sich nicht verstecken muss in der Ahnengalerie der Stones. Und das schaffen sie. Es ist sogar so erschreckend, dass Jagger dermaßen frisch und druckvoll klingt, dass man sich unwillkürlich fragt, ob künstliche Intelligenz im Studio eingesetzt wurde oder ob Jagger es wirklich noch so drauf hat. "Angry" ist Opener und erste Single zugleich, um allen Nörglern zu zeigen, dass die altbekannte Hitmischung aus Laidback-Rhythmus und Rotzgesang seit "Start me up" immer noch funktioniert. "Depending on you" lehnt sich an die unzähligen Balladen à la "Dead flowers" an. Ein Song wird, wie immer, von Keith Richards gesungen, in diesem Fall "Tell me straight". Dann noch etwas Country in "Dreamy skies" und "Mess it up" bewegt sich zwischen der für die Stones eher düsteren Disco-Ära und "Highwire".

Selbstverständlich gibt es Streitpunkte. Die Stones sind bekannt dafür, den Studiosound immer in Hände zu legen, die etwas Neues probieren. Diesmal saß Andrew Watt an den Reglern, der es teilweise übertrieben hat. "Whole wide world", der stärkste Song des Albums, wurde leider von einem penetranten Phaser-Sound verunstaltet, der selbst unter dem Refrain sinnlos weiterwabert. Watt hat auch zu oft selbst den Bass umgeschnallt, anstatt sich Darryl Jones auf die Kurzwahltaste des Studios zu legen, wenn es grooven soll. Der Bassist, der seit dreißig Jahren die Rhythmusarbeit gemeinsam mit Charlie Watts erledigt hat, spielt auf keinem einzigen Song mit – was für ein Fehler. Zudem wurden Hall und Echo zu inflationär eingesetzt, was vor allem am Ende manches Songs wirkt, als wenn der Frosch aus dem Brunnen quäkt. Manchmal gelingen Experimente aber auch: Sich Paul McCartney ins Studio einzuladen, um dann den Bass-Sound mit einem Fuzz bei "Bite my head off" so zu zerstören, dass davon fast nur Bitcrusher-Suppe übrig bleibt, welch ein Spaß!

Und dann sind da die großen Leerstellen. Es schmerzt, wer auf dem Album alles nicht da ist. Zuvorderst natürlich Charlie Watts. Auf zwei Songs noch aus der Konserve, auf "Live by the sword" sogar zusammen mit Bill Wyman. "Mess it up" zeigt aber noch deutlich mehr, welch aussergewöhnlicher Drummer Watts war, wenn er die Hi-Hat mehr gezogen, als geschlagen hat. In den schwachen Momenten von "Hackney diamonds" wird klar, wie wichtig Charlie Watts für die Chemie zwischen Jagger und Richards war. Dort klingt die Platte stellenweise, als wenn Jagger über ein Soloalbum von Richards drübersingt. Und die Liste der irritierenden Momente wird länger. Das Saxofon auf "Get close" ist eben nicht von Bobby Keys, der ebenfalls schon tot ist, sondern von Fitz And The Tantrums' James King. Elton John ist bei aller Fantasie auch nicht Billy Preston. Aber vielleicht geht es in dieser Liga am Ende gar nicht mehr um die Musik. Jagger und Richards sind das Bollwerk des Hedonismus der 68er-Generation: Rauchen, saufen, rumhuren – für nichts muss der Preis bezahlt, sondern umso stärker das eigene Verwelken ignoriert werden. Sterben ist für die Vernünftigen und Langweiler. Kommt, lasst uns nächstes Jahr nochmal auf Tour gehen! Das selbstreferenzielle Cover "Rolling stone blues" soll ein Schlusspunkt sein? Wenn ihr es so sehen wollt, treibt das nicht die Stones, sondern nur die Ticketpreise in den Himmel.

(Stephan Dublasky)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Angry
  • Bite my head off
  • Whole wide world
  • Rolling stone blues

Tracklist

  1. Angry
  2. Get close
  3. Depending on you
  4. Bite my head off
  5. Whole wide world
  6. Dreamy skies
  7. Mess it up
  8. Live by the sword
  9. Driving me too hard
  10. Tell me straight
  11. Sweet sounds of heaven
  12. Rolling stone blues
Gesamtspielzeit: 48:28 min

Im Forum kommentieren

Sloppy-Ray Hasselhoff

2024-08-06 22:50:34

>Technisch gesehen ist das allerdings nichts wirklich besonderes, tatsächlich sogar im Standard-Bluesy-Bereich.<

Nicht quatschen, Baby. Spiel es. Spiel es einfach.

fuzzmyass

2024-08-06 16:03:23

Bin auch ein sehr großer Mick Taylor Fan.... Richards-Taylor eines der besten Gitarren-Duos aller Zeiten

NeoMath

2024-08-06 16:01:41

@Sloppy

Ja, das Solo hat geiles Feeling und kommt insgesamt ziemlich gut. Ich mag sowas auch sehr.

Technisch gesehen ist das allerdings nichts wirklich besonderes, tatsächlich sogar im Standard-Bluesy-Bereich.

Sloppy-Ray Hasselhoff

2024-08-06 15:54:35

>weil er nie als Songwriter Credit bekam<

Kommt zu dem Wirrwarr mit Richards hinzu. Stimmt.

kusubi

2024-08-06 14:43:46

Taylor verließ die Band wohl auch, weil er nie als Songwriter Credit bekam. Grad auf der" its only Rock n roll" stehen ihm da einige zu.

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