Sufjan Stevens - Javelin

Asthmatic Kitty / Cargo
VÖ: 06.10.2023
Unsere Bewertung: 9/10
9/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10
8/10

Die echte Liebe

An einer Stelle seines Essays "The fire next door" spricht der amerikanische Schriftsteller James Baldwin über die demaskierende Eigenschaft der Liebe. Liebe, stellt er sogleich klar, sei hier nicht einfach auf der persönlichen Ebene gemeint, sondern im Zeichen der Gnade zu verstehen. Nicht im "infantilen amerikanischen" Sinne der Glückserfüllung, sondern als widerstandsfähige Suche, als Wagnis und Wachstum entfalte sie diese Kraft. Einer der beiden Vorboten von Sufjan Stevens' zehntem Soloalbum "Javelin" stellt eine Frage, die so nackt und direkt daherkommt, dass ihr ein Baldwinsches Verständnis der Liebe eingeschrieben zu sein scheint: "Will anybody ever love me?" Daran schließt sich präzisierend an: "For good reasons / Without grievance, not for sport." Es geht hier, so dürfte jeder und jedem halbwegs mit Stevens' Oeuvre Vertrauten sofort einsichtig sein, um mehr als die individuelle Befriedigung eines Bedürfnisses, vielmehr feiert der Song im gleichen Atemzug eine Form der Selbstauflösung: "Tie me to the final wooden stake / Burn my body, celebrate the afterglow." Liebe und Schmerz, ihre enge Verschlungenheit, bilden die Leitmotive auf "Javelin", das als Stevens' erstes echtes Singer-Songwriter-Album seit "Carrie & Lowell" angekündigt wurde. Tatsächlich ist es noch mehr als das: Stevens greift diverse Elemente seiner musikalischen Laufbahn auf und fusioniert sie fulminant, in gleichen Teilen intim wie opulent, niederschmetternd wie erhebend.

Alle zehn Songs des Albums beginnen dabei ähnlich reduziert. Stevens begleitet sich mit Klavier oder Akustikgitarre, reichert dann die Arrangements kompositorisch an, bis Melodien umeinander tänzeln, sich verdoppeln und konterkarieren. Dass er dabei beinahe alles selbst eingespielt hat, wirkt einerseits schier unglaublich und überrascht doch kaum, schließlich personifizierte er schon in der Vergangenheit den Multiinstrumentalisten schlechthin. Dabei nehmen die Songs ganz unterschiedliche Abzweigungen: "Goodbye evergreen" eröffnet "Javelin" als tieftraurige Klavierballade, die nach einem Drittel bereits kippt: Glockenschläge, dissonant verzerrte Synthies, durcheinanderhallende Stimmen gemahnen an das desorientierende Chaos von "The age of Adz", bevor im Ambient-Outro der Frauenchor den versehrten Protagonisten beschwichtigt. Ohnehin, diese Chöre! Wie der Held einer griechischen Tragödie steht Stevens immer wieder im virtuosen Dialog mit Adrienne Maree Brown, Hannah Cohen, Pauline Delassus, Megan Lui und Nedelle Torrisi, die ihn kommentieren, stützen, auffangen. Die federleichte Schönheit von "Running start" strotzt vor melodischem Einfallsreichtum, Oboe und Flöte rufen die Klangteppiche von "Illinois" ins Gedächtnis.

Das angesprochene "Will anybody ever love me?" lässt sich zunächst von einem Banjo antreiben. Zum Ende entrückt ein Retro-Drumcomputer das Stück, der stellvertretend für die mühelose Symbiose aus analogen und elektronischen Sounds steht, auf die Stevens in den vergangenen Jahren hingearbeitet hat. Ähnlich treten in der ersten Single "So you are tired", einer beklemmenden Studie über zwischenmenschlichen Zerfall in gestochen scharfen Bildern ("I was a man indivisible / When everything else was broke"), mit jedem Hördurchgang neue Facetten hervor und auch das anfangs Überhörte treibt irgendwann Tränen in die Augen. Schon jetzt formen die öffnenden, düsteren Klavierakkorde einen dieser imposanten Momente in Stevens' Diskografie, die kurzzeitig alles ins Stocken geraten lassen. "Everything that rises" bezieht sich implizit auf den jesuitischen Theologen Teilhard, der seinerzeit eine von den Dogmen des Vatikans abweichende Aussöhnung von Evolutionstheorie und Schöpfungsmythos anstrebte. Feierlich getragen, beinahe gospelhaft klingen Stevens und sein Chor im Gebet. "Jesus lift me up to a higher plane / Can you come around before I go insane?", singen sie, während die langsam an- und abschwellende Dramaturgie des Songs diese Bewegung nachvollziehen möchte. Das schräg pluckernde Zwischenspiel wird schließlich von einer gezupften Gitarre virtuos aufgefangen. Nicht nur hier wirkt Stevens 'Stimme ein wenig rauer und älter als früher, beinahe angefasst, was ihr eine ergreifende Gravitas verleiht.

Die letzten drei Songs brechen die Struktur der Arrangements weiter auf: So verharrt der Titeltrack in seinem dezenten Einstieg, was seinen markerschütternden Effekt noch steigert. "For if it had hit its mark / There'd be blood in the place / Where you stood", spekuliert Stevens über seinen symbolischen Speerwurf, erschrickt dann vor sich selbst, "it's a terrible thought to have and hold." Ein wiederholt angeschlagenes, verstimmtes Klavier bleibt übrig. "Shit talk", der mit achteinhalb Minuten klar längste Song des Albums, hebt mit Bryce Dessners Gitarren- und Bassarbeit beschwingt an, kommt aber bald zum zwischenzeitlichen Stillstand. Stevens entblößt den Wunsch nach Geborgenheit, wird auf den Schwingen seines Chores erst davongetragen, dann fallengelassen, bevor alles einer himmlischen Klimax entgegentreibt, die in sphärischen Ambient-Flächen verhallt. Wie ein kleiner Bruder der legendären Odyssee von "Impossible soul" kommt es in diesem Wechselspiel auch thematisch daher.

"Javelin" endet mit einer Coverversion, was nur auf den ersten Blick frappiert. Seine Krisen und Kämpfe um Glauben und Sinn legt Stevens darin einem anderen großen Songwriter in die Hände, der in ähnlicher Weise Trost spenden konnte. So transformiert er "There's a world", eines der zwei orchestralen Stücke auf Neil Youngs "Harvest", zu einer filigranen Akustiknummer, kehrt dessen charmanten Trotz im Angesicht existentieller Ängste in den Vordergrund: "There's a world you're living in / No one else has your part / All God's children in the wind / Take it in and blow real hard." Kurz vor Entstehen dieser Rezension wurde bekannt, dass Stevens am Guillain-Barré-Syndrom erkrankt ist, zeitweilig nicht mehr laufen konnte. Auf seiner Homepage zeigt er sich humorvoll, kämpferisch und auf dem Weg der Besserung. An dieser Stelle sei ihm selbst all jene Kraft gewünscht, die seine Musik einmal mehr in die Welt trägt.

(Viktor Fritzenkötter)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • A running start
  • Will anybody ever love me?
  • So you are tired
  • Shit talk

Tracklist

  1. Goodbye evergreen
  2. A running start
  3. Will anybody ever love me?
  4. Everything that rises
  5. Genuflecting ghost
  6. My red little fox
  7. So you are tired
  8. Javelin (To have and to hold)
  9. Shit talk
  10. There's a world
Gesamtspielzeit: 42:05 min

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Hierkannmanparken

2023-11-30 20:32:23

Nachdem ich es am Anfang nett und schön fand, gehen mir mittlerweile auch einige Stücke unter die Haut. Und kompositorisch gibt es wahnsinnig viel zu entdecken. Etwas schwächer finde ich den Anfang mit diesem elektronischen Lärm, das klingt einfach nicht gut. Und Shit Talks finde ich vergleichsweise öde. Passend dass da ein Dessner mitgemischt hat.

Die Rezi ist übrigens richtig gut. Hat was von einem Essay, bleibt dabei aber sehr nah an der Musik.

Felix H

2023-11-30 20:00:01

Ich finde es sehr schön, auch wenn es aus der Diskographie nicht heraussticht. (Das tun weiterhin "Illinois" und "Carrie & Lowell".) Kann damit aber schon mehr anfangen als mit "The Ascension" und die Hintergrundgeschichte seines Lebens macht schon ein wenig Gefühle.

Obrac

2023-11-30 17:26:02

Ich find sie leider nicht so stark. Das Album hat für mich zu viel Schönklang und zu wenig Tiefe. Der Platte fehlt die Schwere von Carrie & Lowell und Seven Swans. Stattdessen gibt es für meinen Geschmack zu aufdringliche Chorgesänge und letztlich auch zu viele Melodien, die man in den letzten Jahren so ähnlich schon öfters von Sufjan gehört hat.

jo

2023-10-26 20:48:43

Wie gesagt: Mir ging es am Anfang mit der "Carrie & Lowell" so... ;)

Unangemeldeter

2023-10-26 15:51:06

Nee ey, echt schade, aber bei mir zündet das Album einfach nicht. Einige schöne Momente, das war's aber auch. Lichtjahre von der emotionalen Wucht von Carrie&Lowell entfernt.

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