Neil Young - Chrome dreams

Reprise / Warner
VÖ: 11.08.2023
Unsere Bewertung: 9/10
9/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10
8/10

Der Traum stirbt, die Legende lebt

In den Fluren und Korridoren wird inzwischen aufgeregt gemunkelt: Sprengt das Gebäude, das Neil Youngs Archivmaterial beherbergt, womöglich sogar die Dimensionen unserer imposanten Redaktionszentrale? Anders lässt sich die schier unermessliche Fülle an Liedgut, die Young Jahr für Jahr bei konstant hoher Qualität zutage fördert, jedenfalls kaum noch erklären. Und wohl keine andere Veröffentlichung daraus wurde dermaßen sehnsüchtig erwartet wie das mythenumrankte, zeitweilig schon für immer verschüttet geglaubte "Chrome Dreams". Die beste Young-Platte der 70er-Jahre hätte sie sein können, spekulierte einst der "Guardian" in seiner Rezension des angesichts der Umstände keck betitelten, 2007 erschienenen Nachfolgers "Chrome dreams II" – der musikalisch und thematisch aber nur lose an seinen Referenzpunkt anschloss. Dass "Tonight's the night" oder "On the beach" dahingehend ernsthaft Konkurrenz bekommen sollten, übersteigt erst einmal wirklich die Grenzen der Vorstellungskraft. Über Jahrzehnte zirkulierten Bootlegs des 1977 auf Acetat gebannten und dann zurückgestellten Originals in Fankreisen, die die Sehnsucht nach den ursprünglichen "Chrome dreams" bloß weiter nährten. Nun also ist der Moment endlich gekommen und hinterlässt vorrangig zwei Eindrücke: Ja, "Chrome dreams" präsentiert sich als grandioses Stück Musik, das Youngs kreativer Wut und Abgründigkeit in seiner vielleicht beeindruckendsten Schaffensphase einen würdigen Schlusspunkt setzt. Zugleich verbindet sich der Versuch, sich dem Album als solchem zu nähern, zunächst mit gewissen Schwierigkeiten: keine Zeitmaschine zu besitzen hauptsächlich.

Zehn der Zwölf Stücke auf "Chrome dreams" haben in den vergangenen viereinhalb Dekaden nämlich bereits das Licht der Öffentlichkeit erblickt – in den genau hier versammelten Versionen, jedoch breit verstreut. Gleich fünf packte Young zeitnah auf "American stars'n bars", andere fanden ihren Platz erstmals auf dem 10-CD-Boxset "Neil Young Archives Volume II: 1972–1976" oder den ebenfalls großartigen Archivalben "Hitchhiker" ("Pocahontas", "Powderfinger") und "Homegrown" ("Star of Bethlehem"). Was bedeutet, dass Alumni der Youngologie großteils vertraut mit dem hier dargebotenen Material sind und den Akzent abermals auf etwas anderes legen: die Konzeption des Originals als künstlerisch eigenständiges Album, mit eigener Dramaturgie und Atmosphäre. Das eindringliche "Pocahontas" – bekannt geworden auf "Rust never sleeps" und hier im akustischen One-Take eingespielt – knüpft an das antikolonialistische Narrativ von "Zuma" an, entlarvt sich dann aber mit schmerzhafter Vieldeutigkeit als Phantasie des Nachgeborenen: "Marlon Brando, Pocahontas and me." Das psychedelisch-verspulte, tieftraurige "Will to love" bleibt einer der seltsamsten und zugleich bewegendsten Songs in Youngs Œuvre, wenn es leicht verstimmt vor knisterndem Lagerfeuer der Realität peu à peu den Rücken kehrt, dabei fast an Tim Buckley gemahnt. Von der ersten Zeile an schreibt es das Thema von "Pocahontas" fort und wirkt wie das schillernde Zentrum von "Chrome dreams": "It has often been my dream / To live with one who wasn't there."

"Chrome dreams" strahlt mithin eine Resignation aus, die sich ästhetisch vollkommen einlöst, zugleich aber einen Grund dafür liefern könnte, warum Young die Veröffentlichung so lange verweigerte. "Star of Bethlehem", auf "American stars'n bars" noch das angenehm schunkelnde Duett mit Emmylou Harris, hallt im neuen Kontext anders nach: "All your dreams and your lovers won't protect you / They're only passing through you in the end." Und "Like a hurricane" entfesselt zwar erstmals die E-Gitarre in einem wunderbar evokativen Solo, doch spielt Young sich dabei minutenlang immer hoffnungsloser in den Grenzbereich seines Instruments – wie eine Scheherazade, die das Ende der Geschichten befürchten und darum hinauszögern muss. Die bislang unveröffentlichte Version von "Hold back the tears" wirkt mit ihrem stärkeren Country-Einfluss wie die besoffene Einladung zum sentimentalen Kneipengespräch. Über allem schwebt jedoch bis hierhin eine Frage: "Am I too far gone?"

Eine subtile und dennoch erstaunliche Wendung vollzieht die zweite Albumhälfte, die ähnlich wie einst "Tonight's the night" nicht davor scheut, Songs unterschiedlichster Register aufeinanderfolgen zu lassen und dabei dennoch Kohärenz erzeugt. Die Live-Aufnahme der Pianoballade "Stringman" spendet freundschaftlichen Trost und sieht zugleich dem Ende des Idealismus in die Augen: "You can say the soul is gone and the feeling is just not there / Not like it was so long ago." Die unheilschwangere Gewalt der akustischen "Captain Kennedy" und "Powderfinger" wird umkreist von den surrealen Vignetten des trocken rockenden "Sedan delivery", das in einer frühen, holpernden Aufnahme neu aufscheint. Wiederholte Hördurchgänge offenbaren, wie fein "Chrome dreams" als Ganzes funktioniert, eine Stimmung erzeugt, die sich in ihrer ungreifbaren Melancholie von allen anderen Alben Youngs unterscheidet. Endlich rückt zusammen, was je schon zusammengehörte, möchte man rufen. Bei aller emotionalen Wucht entlässt "Look out for my love" mit Zeilen, die so einfach und so typisch für Young sind, dass sie niemand anderes so hätte schreiben können: "How could I be sad / When I know that you might?" Nach 45 Jahren reicht "Chrome dreams" das fehlende Puzzlestück zur schwersten und besten Ära in Youngs umfangreicher Diskografie – und ist dabei nicht weniger als das zerschossene, tiefschürfende Dokument einer lange währenden Unmöglichkeit.

(Viktor Fritzenkötter)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Will to love
  • Too far gone
  • Like a hurricane
  • Stringman
  • Look out for my love

Tracklist

  1. Pocahontas
  2. Will to love
  3. Star of Bethlehem
  4. Like a hurricane
  5. Too far gone
  6. Hold back the tears
  7. Homegrown
  8. Captain Kennedy
  9. Stringman
  10. Sedan delivery
  11. Powderfinger
  12. Look out for my love
Gesamtspielzeit: 50:28 min

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Peacetrail

2023-08-29 06:28:51

Danke, dann glaube ich Wikipedia.

ijb

2023-08-29 01:27:49

@Peacetrailtelecaster

Wikipedi (https://en.wikipedia.org/wiki/Rust_Never_Sleeps) schreibt hierzu:

Two songs from the album were not recorded live: "Sail Away" was recorded without Crazy Horse during or after the Comes a Time recording sessions, [11] and "Pocahontas" had been recorded solo in 1976 [11] (original recording without overdubs was released in 2017 on archival release Hitchhiker).

[11] http://hyperrust.org/Chronology/The70s.html

Peacetrail

2023-08-28 23:06:12

Ansonsten sollte Hitchhiker das erste Album sein, und als das nicht kam wurden Songs weitergeschoben auf Alben, die danach auch nicht kamen: Mr Oh so hat in seiner Aufzählung noch Homegrown vergessen.
9/10 sind berechtigt, aber der Preis ist happig für ein Album, das mit der Sedan-Delivery-Version im Grunde nur einen echten Mehrwert hat. Gefreut habe ich mich über die Wiederentdeckung von Stringman, zuerst auf Decade, die ich viel zu selten höre.

Peacetrail

2023-08-28 22:59:54

Du hast recht, aber es dürfte nur ein Song sein. Sail away.

ijb

2023-08-28 22:22:59

@ Telecaster / Rust Never Sleeps

Soweit ich weiß, sind wohl nur zwei Songs reine Studioaufnahmen, die anderen Stücke sind wohl Liveaufnahmen zumindest mit Overdubs oder sind erkennbar mit Konzertatmo.

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