Jason Isbell And The 400 Unit - Weathervanes

Southeastern / Membran
VÖ: 09.06.2023
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

In die Tiefe gehen

"Everybody dies but you gotta find a reason to carry on." In "Death wish" geht es um das Leben mit einer suizidalen Partnerin, um metaphorisch aus den Augen weichendes Lebenslicht, um bedingungsloses Weitermachen im Angesicht der Ratlosigkeit. Jason Isbells immer verzweifelter klingende Stimme klammert sich an den letzten Rest Hoffnung, dringliche Drums und Streicher untermalen diese Intensität. "Weathervanes" braucht nicht mehr als diesen Opener, um klarzumachen, dass es kein Feel-Good-Album geworden ist. Isbell, der in und außerhalb seiner Musik offen mit seinen eigenen dunklen Stunden samt früherem Alkoholismus umgeht, hat sich vor allem wegen derartiger textlicher Abgrundbohrungen als eine der führenden Figuren der seriösen Americana-Szene profiliert. Fernab von allen Country-Klischees legt er frei, mit welchen Dämonen die US-Gesellschaft allgemein und ihre nicht gerade vom Glück geküssten Mitglieder im Speziellen zu kämpfen haben – während seine Band The 400 Unit auch auf ihrer ersten selbstproduzierten Platte seit "Here we rest" aus 2011 die Worte virtuos begleitet.

Das Gefühl von Machtlosigkeit in einer Beziehung steht auch im Fokus des luftigen Shuffles "If you insist", nachdem das verschluffte "Middle of the morning" die Rollen zuvor vertauscht hatte: "I know you're scared of me / I can see it in your smile / Like an unattended child you can't quite trust." Der Erzähler fühlt sich in einer Lockdown-ähnlichen Situation gefangen, weckt in sich sorgenden Menschen die Angst vorm Rückfall in selbstdestruktives Verhalten, und erneut ist es Isbells fragiles Schmettern, das den drohenden Kollaps spürbar macht. In "Vestavia Hills" gibt ein erfahrener Rocker seinem jüngeren Pendant Lebensratschläge, in "White Beretta" entschuldigt sich der Protagonist dafür, eine frühere Freundin zu einer Abtreibung gedrängt zu haben, die sie selbst nicht wollte – die Negierung weiblicher Selbstbestimmung mal in die andere Richtung. Unabhängig von ihrem tatsächlichen autobiografischen Gehalt ist die Plastizität von Isbells Geschichten bemerkenswert.

In dieser Hinsicht besonders beeindruckend gerät "Save the world", in dem ein Vater den nächsten Schul-Amoklauf in den Nachrichten verarbeiten muss. "Balloon popping in the grocery store, my heart jumping in my chest / I look around to find the exit door, which way out of here's best", beschreibt der Erzähler seine Alltagsängste, fragt sich danach, ob er seine Tochter nicht lieber zu Hause behalten soll. The 400 Unit spielen dazu druckvollen Jangle-Pop und beweisen damit ihre stilistische Flexibilität. Als Hommage an den verstorbenen Justin Townes Earle schleift "When we were close" bluesige Riffs bis zu einem klagenden Solo, ehe der von Bongos untermalte Classic-Rock-Groover "This ain't it" Isbell ein paar Mick-Jagger-Stimmverrenkungen abringt. Im schlicht wunderschönen "Volunteer" hat Amanda Shires ihres größten Auftritt, Isbells Ehefrau, gelegentliche Band-Kollegin und selbst renommierte Country-Songwriterin, deren Violinenspiel und Background-Gesang den Song zum Strahlen bringen.

Dass "Weathervanes" kein Feel-Good-Album geworden ist, stimmt nämlich nur, wenn man Isbells Texten Gehör schenkt: Die reine Musik erzeugt den gegenteiligen Effekt. Ein Arbeitsunfall treibt den Protagonisten von "King of Oklahoma" in die Medikamentensucht und Kriminalität, während die Empathie aus dem erhabenen Refrain suppt. "Cast iron skillet" nutzt zärtlichsten Folk, um in Amerikas Verderbtheit zu stochern: "Jamie found a boyfriend / With smiling eyes and dark skin / And her daddy never spoke to her again." Der jammige Sieben-Minuten-Closer "Miles" ersäuft die familiäre Entfremdung in seinem Kern mit endlosen Gitarren-Weiten. Wenn im Akkordeon-unterstützten Liebeslied "Strawberry woman" mal keine Stolperfallen versteckt sind, neigen sich Isbell und Co. ein klein wenig zu sehr in Richtung seichter Gewässer – zumal sich nicht nur hier das Fehlen von Dave Cobbs tiefengebender Produktion der früheren Platten bemerkbar macht. Doch wer von den ganzen Abgrund-Beäugungen wahrscheinlich schon einen Buckel hat, hat sich auch etwas Auflockerung verdient.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Death wish
  • King of Oklahoma
  • Save the world
  • Volunteer

Tracklist

  1. Death wish
  2. King of Oklahoma
  3. Strawberry woman
  4. Middle of the morning
  5. Save the world
  6. If you insist
  7. Cast iron skillet
  8. When we were close
  9. Volunteer
  10. Vestavia Hills
  11. White Beretta
  12. This ain't it
  13. Miles
Gesamtspielzeit: 60:30 min

Im Forum kommentieren

Armin

2023-06-25 08:59:57- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

Meinungen?

Luc

2023-06-14 09:50:20

Ich höre es momentan gerne beim Radeln ins/vom Geschäft, gefällt mir sehr gut.
Highlights bei mir dafür ganz andere:
Strawberry Woman
Save The World
White Beretta

diggo

2023-06-12 06:06:07

Besonders spannend an dieser Platte finde ich übrigens das in mehreren Songs eingesetzte Akkordeon, das bisher in Isbells Musik nicht präsent war oder mir zumindest nie aufgefallen ist.

Die Platte wächst und wächst. Stark. Zurzeit bei 8/10.

diggo

2023-06-10 20:50:20

Ist - wie zu erwarten war - ne richtig starke Platte geworden, musikalisch und texlich. Meine Highlights nach den ersten drei Durchgängen: „King of Oklahoma“, „If You Insist“ und „Volunteer“.

Grizzly Adams

2023-05-31 17:52:59

Mit „Save the World“ ist bereits eine vierter Song hörbar. Ebenso gut wie die anderen, vielleicht sogar noch ein bisschen more catchy. Das Album wird von mir gerne erwartet.

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