Xiu Xiu - Ignore grief

Polyvinyl / Rough Trade
VÖ: 03.03.2023
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Keine halben Sachen

"Sorry, kann damit nichts anfangen. Single ist mir zu formatradiomäßig." One-Liner wie dieser zeigen: Das Plattentests.de-Forum ist mit seinem speziellen Humor immer wieder ein Quell der Freude. Im Gegensatz zur angesprochenen Xiu-Xiu-Single "Maybae baeby", einem rechtschaffen hässlichen Gebilde aus metallischem Schaben und gepeinigten Drones, bang durchflüstert von einer offenbar arg verschreckten Angela Seo. Beängstigend, aber leider geil. Keine Spur davon, dass Gründer Jamie Stewart Pop-Phänomenen durchaus zugeneigt ist – siehe "Plays the music of Twin Peaks" oder die Coverversion von Rihannas "Only girl (in the world)". Neuerdings sind Xiu Xiu sogar zu dritt, denn zu Stewart und Seo gesellt sich mit David Kendrick ein Drummer, der schon für Devo oder Sparks spielte. Popmusik kann man auf "Ignore grief" meist trotzdem getrost vergessen.

Aus gutem Grund, denn die zehn aufgeworfenen Song-Brachen beschäftigen sich nur mit den furchtbarsten menschlichen Abgründen, die Leuten aus dem Umfeld der Band begegnet sind: Zwangsprostitution, Missbrauch von Alkohol und Kokain, Selbstmord als letzte Zuflucht und Schlimmeres. Allesamt Dinge, die schwerer zu ignorieren sind, als der Albumtitel das suggeriert. Schon der Einstieg "The real chaos cha cha cha" macht klar, dass das hier nichts für Weicheier jeder Art ist: Stählerne Percussions zischen, hochfahrende Synthie-Installationen wabern, Transistoren brutzeln – egal, ob ein fast putziges Klöppel-Outro tut, als könne es kein Wässerchen trüben. Und wenn Stewart ein paar Stücke später zu erratischem Neoklassik-Gewusel beschwörend "Tarsier, tarsier, tarsier, tarsier" ruft, schaut man längst so drein wie der besungene Primat.

Immerhin haben Xiu Xiu wie bei "Oh no", dem ausgewiesenen "album of duets", auch für "Ignore grief" mit "a record of halves" eine halbwegs griffige Kategorisierung parat. So teilen sich Stewart und Seo die Vocals gleichmäßig auf und ist nur eine Hälfte der grausamen Geschichten wahr und die andere erfunden – einfacher wird das Ganze dadurch aber nicht. Was sich in "Pahrump" in Nevada zugetragen haben mag, will man ob der ominösen Schwadronen aus Streichern und Gebläse lieber gar nicht erfahren, und dass in der "Border factory" ein Hochofen voll armer Seelen lodert, der von einer auf Ölfässern trommelnden Horde satanischer Diddl-Mäuse angetrieben wird, steht ohnehin außer Frage. Verblüffend, wie dieses wüste Panoptikum der Scheußlichkeiten am Ende dennoch fasziniert und in seiner nihilistischen Konsequenz manchmal sogar amüsiert.

Tief im Herzen sind Xiu Xiu also vielleicht doch die sperrigste und abstoßendste Pop-Band der Welt – obwohl sie alles tun, um diesen Umstand tunlichst geheimzuhalten. Etwa, indem "Esquerita, Little Richard" Rock'n'Roll-Götter nennt und sie anschließend in rohem Elektro-Stakkato und Noise-Eskapaden versenkt oder "Brothel creeper" listig ein biblisches Motiv verfremdet und kurz einen Tribal-Veitstanz aufführt. "For M" bündelt zum Schluss alle Aggregatzustände dieses Albums noch einmal in drei zerrenden Sound-Aufzügen – und belegt, dass Xiu Xiu dem unvergessenen Scott Walker in seiner Spätphase immer ähnlicher werden: Eines Tages werden auch sie mit Schweinehälften, irren Donald-Duck-Stimmen und Flatulenzgeräuschen hantieren. Bis es so weit ist, gibt es Platten wie "Ignore grief". Selten war ein musikalischer Trümmerbruch schöner.

(Thomas Pilgrim)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • The real chaos cha cha cha
  • Maybae baeby
  • Border factory
  • For M

Tracklist

  1. The real chaos cha cha cha
  2. 666 photographs of nothing
  3. Esquerita, Little Richard
  4. Maybae baeby
  5. Tarsier, tarsier, tarsier, tarsier
  6. Pahrump
  7. Border factory
  8. Dracula parrot, moon moth
  9. Brothel creeper
  10. For M
Gesamtspielzeit: 42:07 min

Im Forum kommentieren

dieDorit

2023-03-09 22:45:55

Ich habe Xiu Xiu tatsächlich einmal live in der GOMA in Brisbane gesehen wo sie Xiu Xiu Plays the Music of Twin Peaks gespielt haben. Das war für mich eines der eindrücklichen Live-Auftritte, die ich bisher erlebt habe (zugegeben es sind nicht so viele wie für manche andere hier im Forum).

ijb

2023-03-09 20:55:00

@u.x.o.

Ich hab Xiu Xiu schon mehrfach live gesehen, aber witziger-/zufälligerweise noch nie die Band so richtig als Band... Einmal war's ne Jamie-Soloshow, die war super, weil er viele Instrumente gleichzeitig gespielt hat, einmal war's eine Livevertonung eines Stummfilms in einem kleinen Berliner Kino (Brotfabrik), da spielten Jamie und Angela – und einmal (gerade im Winter) sah ich einen Doppelabend, zuerst Jamie solo an Gitarre und im Anschluss Angela solo an Grand Piano, Gong und Noise/Elektronik. Letzteres war leider eher mittelmäßig, weil die Songs als Solo-Gitarrendarbieteungen eher nicht so wirklich interessant sind wie in den spannenden Album/Band-Arrangements, und Angelas Solo-Impro-Show fand ich sogar ziemlich mau. Ich wollte auch schon ne Karte fürs Berlinkonzert kaufen, musste dann aber feststellen, dass ich an dem Abend erst von von einer Oslo-Reise zurückkomme, und da könnte ich dann wohl nur hingehen, wenn ich direkt vom BER komme, und die Show nicht vor 21 Uhr anfängt. Daher: Mal schauen...

u.x.o.

2023-03-09 19:01:38

Hat die von Euch schonmal jemand live gesehen? Kommen im Mai nach Berlin und ich denke, ich sehe sie mir mal an.

"Ignore Grief" fasziniert mich immer mehr. Irgendwie klingt das Album exakt so, wie ich mich aktuell fühle. Es ist zwar nicht so, dass ich das Album nicht mehr aus der Rotation bekomme, aber immer wenn es läuft, bin ich total gebannt und versinke in diesen Soundwelten. Das ist schon besonders.

u.x.o.

2023-02-23 06:34:55

Mag beide Vorab-Singles sehr und freue mich auf den Release. War bislang nicht der größte Xiu Xiu Fan, aber Oh No fand ich richtig stark und auch die neuen Songs holen mich voll ab.

Z4

2023-02-22 22:51:14

Gesundheit.

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