Belle & Sebastian - Late developers

Matador / Beggars / Indigo
VÖ: 13.01.2023
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10
8/10

Old and stupid

"Old letters, feed them to the shredder / You can let the past be silent." Harte Worte für eine Band, die allein schon mit jedem neuen farbgefilterten Cover-Foto nostalgische Gefühle wie kaum eine zweite weckt. Doch Belle & Sebastian lassen die Vergangenheit keineswegs stumm: Jenes Zitat stammt aus "Give a little time", einem von Sarah Martin gesungenen Pop-Rocker, der sich mit Gute-Laune-Schwung, tightem Rhythmus und subtil heulenden Gitarrenharmonien paradoxerweise perfekt in ihren Nullerjahre-Sound einfügt. Die Text-Musik-Schere umrandet die Zerrissenheit von Belle & Sebastian, die im sich weiterentwickelnden Zusammenspiel noch immer so viel Spaß haben, dass sie nur acht Monate nach dem Karriereherbst-Highlight "A bit of previous" bereits dessen in denselben Sessions entstandenen Nachfolger "Late developers" hinterher schieben. Gleichzeitig müssen sie aber auch eine kultische Fanbase zufriedenstellen, von denen ein nicht unerheblicher Teil einfach nur ein neues "If you're feeling sinister" hören will. Dementsprechend verhalten bis ablehnend fielen die Reaktionen auf die Single "I don't know what you see in me" aus: die erste Zusammenarbeit mit einem externen Songwriter (Pete Ferguson), deren generisch-euphorischer Synth-Pop einen gewissen käsigen Charme versprüht, solange man bei den Worten "Eurovision", "Karaoke-Bar" oder "Carly Rae Jepsen" nicht sofort in den nächstgelegenen Bach springen will.

Der Song bleibt ein Ausreißer auf der Platte – vielleicht ein Überbleibsel aus dem Plan, mit Star-Produzent Shawn Everett Musik in Los Angeles aufzunehmen, bevor die Pandemie das schottische Septett in ihr Glasgower Heimatstudio zwang. Die elektronischen Texturen nehmen sonst eher eine Nebenrolle ein, wie in "When we were very young", dessen Drumcomputer Stuart Murdochs Piano-Lament eines unzufriedenen Familienvaters begleitet: "I wish I could be content with the football scores / I wish I could be content with my daily chores / Now we've got kids and dystopia." Anders als dieser Protagonist toben sich Belle & Sebastian gut aus auf "Late developers". "The evening star" formuliert eine mit Bläsern und Orgeln üppig arrangierte Motown-Soul-Ballade an eine "special person", während Martin das funkige Groove-Monster "When you're not with me" zum höchsten Gipfel des Albums anheizt.

Es ist eines von zahlreichen Beweisstücken für zwei Dinge: zum einen, dass die Band nicht genau wie in den Neunzigern klingen muss, um weiterhin großartig zu sein, zum anderen für den Umstand, dass man keinerlei Bedenken haben muss, wenn der 54-jährige Frontmann den Lead-Gesang abgibt. Martin brilliert auch im sich zuspitzenden Disco-Drama-Dialog von "Do you follow". "Is it me or just the world that's changing?" fragt Murdoch. "My money's on you", entgegnet ihm seine Kollegin trocken. Gitarrist Stevie Jackson schrammelt derweil den Sixties-Power-Pop von "So in the moment" nach vorne, lässt die Verse nur so überschwappen und sich auch nicht von Flöte, Lap-Steel oder Geige beruhigen. Umso beeindruckender, dass dieses Tischfeuerwerk bruchlos auf "Will I tell you a secret" folgt, ein zurückhaltendes Stück Cembalo-unterstützten Kammer-Pops.

Letztgenannter Track datiert auf die frühen Nullerjahre und ist nicht der einzige, der ursprünglich nicht für dieses zehnte Studioalbum konzipiert wurde: Der schlagzeuglose, überraschend rohe Strom-Folk des Openers "Juliet naked" war etwa für den gleichnamigen 2018er-Film gedacht. Noch viel weiter zurück reicht die Geschichte von "When the cynics stare back from the wall", das Murdoch 1994 noch vor der Bandgründung schrieb und das in dieser Neuaufnahme in purster Twee-Pop-Schönheit erstrahlt – auch wenn die wunderbare Duettbeteiligung von Tracyanne Campbell daran erinnert, wie schmerzlich man Camera Obscura vermisst. Belle & Sebastian halten die Vergangenheit am Leben, doch bevor man irgendetwas in Richtung "Rückkehr zu den Wurzeln" hineininterpretieren kann, macht der abschließende Titeltrack zwischen Gospel und kubanischem Kinder-Karneval keine Gefangenen. "Who said that I had the wisdom, had the answer? / Wasn't me", erklärt Murdoch, frei von jeder Verantwortung und ihm angedichteter Altersweisheit. So sorglos und von Erwartungen gelöst, wie seine Band auch nach zweieinhalb Dekaden noch die Indie-Welt bereichert.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • When we were very young
  • When you're not with me
  • When the cynics stare back from the wall

Tracklist

  1. Juliet naked
  2. Give a little time
  3. When we we're very young
  4. Will I tell you a secret
  5. So in the moment
  6. The evening star
  7. When you're not with me
  8. I don't know what you see in me
  9. Do you follow
  10. When the cynics stare back from the wall
  11. Late developers
Gesamtspielzeit: 42:06 min

Im Forum kommentieren

Hogi

2023-02-09 10:41:14

@immermusik: Zumindest ein neues Lloyd Cole-Album kommt bald...:-)

Rote Arme Fraktion

2023-02-09 09:57:02

"When we were very young" ist ein unglaublicher Ohrwurm. Wow!

Immermusik

2023-01-25 09:13:34

I‘m ready to be heartbroken ;-)

Immermusik

2023-01-25 09:12:50

Gibt’s zu Camera Obscura mittlerweile was konkretes? Irgendwann hieß es mal sie arbeiten an einem neuen Album, welches aber wegen Covid verschoben wurde…

Samstag Nacht

2023-01-23 23:30:04

Tracyanne! Und das Vermissen von Camera Obscura ist ja auch bald vorbei.

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