Tokio Hotel - 2001
Epic / SonyVÖ: 18.11.2022
Von Villen und Wollen
"Tokio Hotel brauchen wieder Geld für die Villen", heißt es regelmäßig gehässig im Plattentests.de-Forum, wann immer die Band eine neue Single releast – derer gab es in letzter Zeit nämlich immer mal wieder welche. Allein durch seinen OnlyFans-Account lassen sich Bill Kaulitz' Rechnungen offenbar nicht begleichen und das Jetset-Leben nicht bestreiten. "2001", das nunmehr sechste Album der teils nach Kalifornien ausgewanderten Deutschen nach einer immerhin fünfjährigen Abwesenheit, hat einen gewissen Compilation-Charakter, sammelt es doch viele der oben gemeinten Standalone-Nummern auf und führt sie zusammen. Der Titel bezeichnet das Gründungsjahr des – vergisst man ja oft! – Quartetts, will also zurück zu den Wurzeln. Bedeutet: Tom Kaulitz darf ab und zu eine haptische Gitarre in die Hand nehmen. Damit macht er mal Lagerfeuer, mal Placebo-Riffs, aber meistens nix Wildes, während Bruderherz Bill weiterhin versucht, Töne außerhalb seiner Range zu halten.
Autotune, EDM mit dicken Beats, jetzt wieder ein bisschen mehr Pop-Rock, na schön. Nur: Die auf "Dream machine" und "Kings of suburbia" zwar oft verunglückte, aber doch hörbar angedeutete Kunstfertigkeit und Experimentierfreudigkeit – größtenteils dahin. Die misslungene Generalüberholung des Breakthrough-Hits "Durch den Monsun" macht die Ambitionen früh klar: Man gestalte die Gesangsspuren ein wenig anders und füge ein bisschen Kram hinzu. Hier: einen entlaufenen Mönchschor, der gerade gelernt hat, wie man einen Bass slappt, und die freie Nacht im Club verbringt. Komisch ist das, beinahe bizarr. Hilft dem mageren Songwriting leider alles nicht. "2001" wirkt in Gänze nicht sonderlich ambitioniert, ob nun die ausdruckslose Gastsängerin Vvaves (nein, nicht Wavves), die ausdruckslosen Melodien oder das ausdruckslose Soundgewand.
"Him" ist mit seiner Stromgitarre zumindest annehmbar eingängig, das Herbeifantasieren eines imaginären Boyfriends ohne Real-life-Drama sogar ein bisschen cute. Im Gegensatz zu Kompositionen wie "White lies", bei denen man nicht weiß, ob man sie noch simpel oder schon billig nennen soll, schimmert hier so etwas wie Substanz durch. Viele andere Songs lassen sich derweil in die Kategorien "Tut nicht weh" ("Just a moment", "Happy people") und "absolute Empörung" ("Smells like summer") einordnen. "Hungover you" ist ein merkwürdiger Hybrid aus R&B-Vibes, fernöstlichen Klängen und viel zu vielen Effekten auf dem Stimmchen. Einzig "Another lover" versteht es recht spät noch, durch Konsequenz mitzureißen und den Dancefloor im örtlichen LGBT-Jugendzentrum triumphierend einzunehmen (kleinere Ähnlichkeiten zu "Tik tok" von Kesha mal außen vor gelassen). Momente wie diesen streuen Tokio Hotel in dem mit 16 Songs recht aufgeblasenen Werk viel zu selten.
Spätestens bei "Here comes the night" oder "Bad love" beschleicht eine*n außerdem ein Gefühl. Nämlich dieses seltsame, irritierende, fast alle Melodiebögen und Gitarrenspuren schon mal irgendwo gehört zu haben. Die Liner Notes lagen dem Rezensenten nicht vor, aber "Dreamer" muss doch fast schon von Chad Kroeger geschrieben worden sein und der Deutschpop "Berlin" von denselben Schimpansen, die "Menschen Leben Tanzen Welt" verbrochen haben. Ein Saxofon macht noch keinen Marvin Gaye, ein bisschen Falsett keinen Thom Yorke. Mit "2001", einem anbiedernden Radio-Pop-Album voller Wollen, aber wenig Können, haben sich Tokio Hotel absolut keinen Gefallen getan – zumindest nicht künstlerisch. Denn markttechnisch verwerten für "Ach, ich höre eigentlich alles"-Menschen von Magdeburg bis L. A. lässt sich das bestimmt, und die Miete ist gedeckt. Aber für die Naiven, die Tokio Hotel wegen ihrer eindeutigen Weiterentwicklung irgendwann ein geschlossenes, rundum gelungenes Album zugetraut haben? "I wish I was high all the time", heißt es im schmierigen Ed-Sheeran-Verschnitt "Ain't happy", wenn der Rosé allein nicht mehr kickt. Wir auch, Bill, wir auch.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Him
- Another lover
Tracklist
- Durch den Monsun 2.0
- Him
- White lies (feat. Vize)
- Ain't happy
- Just a moment (feat. Vvaves)
- Hungover you
- Smells like summer
- Happy people (feat. Dadi Freyr)
- Here comes the night
- Dreamer
- Runaway
- When we were younger
- Bad love
- Another lover
- Berlin (feat. Vvaves)
- Back to the ocean
Im Forum kommentieren
The MACHINA of God
2022-11-25 15:17:55
@Ralph:
Kein Ding, AfD-Wahlergebnis dürfte dasselbe sein.
Und laut eigener Aussage scheint die Band ja zu denken, sie komme aus Berlin. :D
Sroffus
2022-11-23 23:57:00
Zwar ist kein Übersong wie "Wenn nichts mehr geht" drauf, aber trotzdem insgesamt ein solides Album.
Freue mich auf's Konzert im Mai.
Ralph mit F
2022-11-23 23:46:50
@machina: Uff, Erdkunde … Danke!
@ocean: Im Sprachgebrauch vlt ein wenig unorthodox, aber meines Wissens korrekt.
@darno: You‘re welcome!
Armin
2022-11-23 21:53:44- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
Meinungen?
Felix H
2022-11-23 21:53:00
Denn nach Duch den Monsun kam doch ernsthaft kein einziger auch nur annähernd brauchbaresr Song.
Auf "Humanoid", "Kings Of Suburbia" und "Dream Machine" waren einige ziemlich gute Songs. Leider durchmischt von ziemlichem Müll.
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