Arcade Fire - WE

Columbia / Sony
VÖ: 06.05.2022
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10
9/10

Morgen zusammen

Wir vs. Ihr. Wir Sind Helden. Ein Hoch auf uns. Und natürlich "We are the champions". Die erste Person Plural ist ein beliebtes Motiv im Pop. Auch bei Arcade Fire, die Zeit ihres Bestehens immer wie eine Art Community wirkten – und zu Anfang ihrer Karriere zuweilen auch wie eine, wiewohl hochwertige, musikalische Altkleidersammlung. Heute stehen Win Butler und Régine Chassagne einem etablierten, weltweit erfolgreichen Millionenseller-Act vor, dem auch das auf Stromlinienform polierte, vergleichsweise schwache Album "Everything now" kaum etwas anhaben konnte. Wäre dieses nicht 2017, sondern 2020 erschienen, hätte es vermutlich "Nothing everywhere" geheißen: An Konzerte war im Lockdown nicht zu denken, gemeinsame Aufnahmen mit der ganzen Band gestalteten sich schwierig. Da dauerte "Une année sans lumière" glatt doppelt so lange.

Nach zwei Jahren in weitgehender kreativer Isolation wurde es also Zeit für ein konzertiertes "WE". Ganz im Zeichen des (Wieder-)Zusammenseins mit allen Mitgliedern und auch mit den Fans bei den ersten Live-Auftritten kurz vor Release. Keine Zeit mehr für spektakuläre Guerilla-Aktionen, wie sie im Vorfeld von "Reflektor" stattfanden, oder für frei erfundene Corporate Identities und Social-Media-Irrungen, die "Everything now" begleiteten – und Arcade Fire bei aller Mühe, am Puls der Zeit zu bleiben, auch ein wenig wie den digitalen Fortschritt skeptisch beäugende Boomer aussehen ließen. Die sieben neuen Songs hingegen ehren das Miteinander, doch daneben beleiht der Albumtitel auch den gleichnamigen, zutiefst dystopischen Roman von Jewgeni Samyatin und zieht so eine beunruhigende zweite Ebene in "WE" ein. "Rebellion (Lies)" und solche Sachen.

Was Arcade Fire vielleicht nicht wussten: Bereits 2011 ließen sich auch die schwedischen Krautrocker Torpedo vom Buch des Russen inspirieren. Reizvolle Fußnote, die man aber auch ignorieren kann, wenn "The lightning I, II" richtig Fahrt aufgenommen hat. Halb wohliges Akustik-Kleinod, das sich an einer malerischen Klavierfigur besäuft, halb groß auftrumpfender Speed-Kracher, unter dem sämtliche Indie-Tanzflächen mindestens so erzittern wie einst bei "Ready to start" – die Wiederkunft der Kanadier will nicht recht verblüffen, weiß aber sehr wohl zu begeistern. Und plötzlich ist auch "Funeral" wieder in deutlicher Hörweite. Nicht nur, weil alle Stücke bis auf den abschließenden Titeltrack ähnlich in Parts aufgeteilt sind wie das in sämtlichen Aggregatzuständen immer noch unschlagbare "Neighbourhood". Zwei tolle Songs in einem – und nicht die einzigen.

Der Doppelpack "Age of anxiety" macht zum Auftakt mit gleichen Mitteln weiter: Butlers Stimme hebt beinahe scheu an und legt erst an Selbstvertrauen zu, wenn rhythmische Lautmalereien ins Spiel kommen, eine Akustikgitarre die Wunden versorgt und das Ganze mit dem Einsetzen des saftigen Schlagzeugs endgültig zur weltumarmenden Hymne wird. Wer nun auf Stadionrock schimpft, möge bedenken, dass auch das fantastische "The suburbs" im Herzen nichts anderes war – und dass die versonnene Piano-Melodie sicher freundlich von Coldplays "Trouble" beeinflusst wurde. Noch intimer beginnt der zweite Teil "Rabbit hole" als kleiner Elektro-Popper mit Butler und Chassagne im verspielten Duett, ehe der erste Drum-Kick die Disco-Spiegelkugel anwirft. Just a reflektor? Eher glitzernde Wuchtbrumme in großzügigen sieben Minuten.

"End of the empire I - IV" legt noch zwei drauf – als vierstöckiger, elegischer Abgesang auf ein ramponiertes Post-Trump-Amerika, der sich anschließend in den elektrifizierten Folkrocker "Unconditional I (Lookout kid)" verabschiedet, wo es sich noch von einem besseren Morgen träumen lässt. Die vergnügt synthetisch hopsende Fortsetzung "Race and religion" kommt ebenso zur rechten Zeit wie "Sprawl II (Mountains beyond mountains)" auf "The suburbs", stibitzt listig ein Riff-Detail aus "Talk" von Coldplay – ja, die schon wieder – und stellt Chassagnes Lead-Vocals ausgerechnet Peter Gabriel als zweite Stimme zur Seite. Nach David Bowie und David Byrne die nächste Rock-Legende, die Arcade Fire zu Recht adelt. Für ein wunderbares Album, das sich kurz fasst, in seiner präzisen Souveränität charmante Spinnereien wie "Flashbulb eyes" oder "Porno" aber schlicht nicht nötig hat. Das Wir gewinnt.

(Thomas Pilgrim)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Age of anxiety I
  • Age of anxiety II (Rabbit hole)
  • Unconditional II (Race and religion)

Tracklist

  1. Age of anxiety I
  2. Age of anxiety II (Rabbit hole)
  3. End of the empire I-IV
  4. The lightning I, II
  5. Unconditional I (Lookout kid)
  6. Unconditional II (Race and religion)
  7. WE
Gesamtspielzeit: 40:09 min

Im Forum kommentieren

kingsuede

2023-08-09 22:42:11

Muss ich mal wieder hören. Ist fast untergegangen.

Yersinia

2023-04-30 12:16:56

War auf der Tour in Köln.


Kein ganz so tolles Set, aber in der Tat grandios.

Tolles Video, danke für den Hinweis!

Matjes_taet

2023-04-30 12:00:30

Irgendwie schade das sie schon länger "Rococo" nicht mehr live spielen.

Der Auftritt mit dem Song bei den Juno Awards 2011 ist immer noch einer meiner Lieblingsmomente von ihnen:
https://www.youtube.com/watch?v=LfrX9I_Tu1M

Old Nobody

2023-04-30 11:11:11

Durchaus ein schönes Set insgesamt.Die neuen Songs profitieren hier und da von der Live Energie. Für so 40-50€ hätt ich mir das sogar gerne gegeben,auch wenn mich Regines Gequäke manchmal echt nervt,wenn sie laut wird :)


jo

2022-12-15 15:17:26

War echt kurz davor, das Album bei der Jahresendbetrachtung auszulassen... hätte ich es mal gemacht.

Ja, manche Alben lässt man besser ruhen ;).

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