The Weeknd - Dawn FM

Republic / Universal
VÖ: 07.01.2022
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Midnight Moroders

Zu viel Ruhm, zu viel Geld, zu viel Auswahl, mit wem man die nächste oberflächliche "Beziehung" eingehen kann – The Weeknd singt seit Jahren von Problemen, mit denen sich Otto Normalsterblicher nicht identifizieren kann. Ist es da ein Wunder, dass sein Erfolg nur noch größer wurde in Zeiten der Corona-Pandemie? Eskapismus hat Hochkonjunktur, kein Zweifel. Natürlich wuchs Abel Tesfaye zeitgleich mit "After hours" auch künstlerisch über sich hinaus, es war das erste Album seit seinen Debüt-Mixtapes, das wirklich rundum überzeugte. Ach, und da waren noch die Smasher "Heartless", "In your eyes", "Save your tears" und dieses "Blinding lights", nur mal eben der langlebigste Billboard-Hot-100-Hit aller Zeiten. Man vergisst fast The Weeknds blutige Nase in der Promo oder das grotesk entstellte Gesicht im Video zu "Save your tears" als Kontrast dazu. Ultra-Massentauglichkeit trifft auf Mut zur Weirdness – auch auf dem Nachfolger "Dawn FM".

Jenes hatte bereits im vorigen Jahr "Take my breath" vorausgeschickt, eine funky Tanzflächennummer mit mitreißendem Refrain. Auf dem Album wird die Single mit der fast sechsminütigen "Extended version" regelrecht zelebriert und der Beat bereits vom nicht minder fackeligen Vorläufer "How do I make you love me?" angeschoben. Hinter all dem Glitzer steckt eine recht unverhohlene Anlehnung an die gefährliche Sexpraktik Asphyxiophilie, doch wenn Tesfaye regelrecht euphorisiert "Take my breath away" jauchzt, hört man mitunter den Wald vor lauter Bäumen nicht. Auch in den Credits von "Dawn FM" trifft ein Gigant einen Außenseiter: Neben Max Martin produzierte Daniel Lopatin alias Oneohtrix Point Never die meisten Songs der Platte. Diese Dualität zieht sich quasi durch alle Bereiche – das ist das Erfrischende an The Weeknd. Er wirft sich richtig in seine Kostüme hinein.

So hält ein krudes Konzept die Stücke zusammen, das nicht von ungefähr an das von Tesfaye produzierte "Magic Oneohtrix Point Never" erinnert. Der titelgebende Radiosender "Dawn FM" geleitet die Autoinsassen in einem metaphorischen Stau ins Jenseits durch den Tunnel, am Mikro sitzt niemand Geringeres als Jim Carrey – im echten Leben übrigens Tesfayes Nachbar. Dieser gibt an mehreren Stellen den esoterischen Prediger, ohne aus dem musikalischen Fluss hinauszureißen. Hinter dieser mystischen Verpackung stecken wiederum auf Hochglanz polierte Popstücke, die nur wenig mit dem schon auf "After hours" zur Hälfte zurückgewichenen R'n'B gemein haben, sondern vielmehr die Italo-Disco im Fegefeuer eröffnen. So herrlich unterkühlt wie "Gasoline" Tesfayes Stimme auf die Temperatur des Beats herunterpitcht, da wäre selbst der olle Giorgio Moroder stolz drauf. Der motzige Bass im zackigen "Sacrifice" erinnert hingegen an die ehemaligen Kollaborationspartner Daft Punk und ruft "Random access memories" in den Kopf.

Auch kurz vor Schluss stehen mit "Don't break my heart" und vor allem dem himmlischen "Less than zero", das mehr als einmal bei The War On Drugs reingelugt hat, zwei glatte Hits. Die Mitte von "Dawn FM" fährt hingegen über mehrere Songs das Tempo herunter, platziert mit "Out of time" und "Here we go ... again" das emotionale Zentrum ins Herz. Wenn man davon sprechen kann. Denn die Hybris vom Karriereanfang mag einer Gebrochenheit gewichen sein, die sich auf dem FaceApp-artigen Covershoot wiederfindet. "I'll always be less than zero / You tried your best with me, I know." "Baby, kick me to the curb." Et cetera. Natürlich enthält ein The-Weeknd-Album auch 2022 noch Zeilen wie "I only want what's right in front of me" oder "You don't wanna have sex as friends no more". Aber der Vibe auf "Dawn FM" ist ein anderer.

Dazu passt auch, dass Tyler, The Creator einen besonnenen Gastauftritt hat und Quincy Jones per Interlude aus seiner verkorksten Kindheit erzählt. "If you weren't raised, you don't know how to raise" – seine Mutter wurde damals mit vorzeitiger Demenz in die Psychiatrie eingeliefert. "Looking back is a bitch, isn't it?" Jener Moment wirkt beizeiten etwas aus dem Kontext gerissen in all dieser neonbeleuchteten Fantasiewelt, genau wie die konfuse, aber zumindest soundtechnisch faszinierende Halb-Werbepause "Every angel is terrifying". Doch wer will schon steuern, welche Erinnerungsfetzen einem auf dem Weg ins letzte Licht um die Ohren fliegen. Jim Carrey findet zum Ausklang dementsprechend die richtigen Worte: "You gotta be Heaven to see Heaven / May peace be with you."

(Felix Heinecker)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Gasoline
  • How do I make you love me?
  • Take my breath
  • Sacrifice
  • Less than zero

Tracklist

  1. Dawn FM
  2. Gasoline
  3. How do I make you love me?
  4. Take my breath
  5. Sacrifice
  6. A tale by Quincy
  7. Out of time
  8. Here we go ... again (feat. Tyler, The Creator)
  9. Best friends
  10. Is there someone else?
  11. Starry eyes
  12. Every angel is terrifying
  13. Don't break my heart
  14. I heard you're married (feat. Lil Wayne)
  15. Less than zero
  16. Phantom regret by Jim
Gesamtspielzeit: 51:49 min

Im Forum kommentieren

boneless

2023-02-03 22:26:45

Ist mir auf den ersten Hör nicht funky genug. %)

Earl Grey

2023-02-02 23:21:30

Oh ja! Unschlagbar! Und die EP -My Dear Melancholy- nach der Trilogy.
Ansonsten mochte ich immer nur noch vereinzelt Songs auf den Alben…

Felix H

2023-02-02 20:03:04

Starte mal bei "House Of Balloons" (Teil 1 der "Trilogy"). Für mich das beste, was er gemacht hat.

Klaus

2023-02-02 19:36:54

Ne, die sind eher ziemlich düster.

boneless

2023-02-02 19:15:32

Nein. Ist das auch so funky?

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