Neil Young & Crazy Horse - Barn

Reprise / Warner
VÖ: 10.12.2021
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Es scheppert unterm Wolkendach

Sie ist keine bloße Metapher, die titelgebende Scheune, und auch nicht einfach ein gelungenes Motiv fürs Coverfoto. Tatsächlich nahmen Neil Young und seine Weggefährten von Crazy Horse im vergangenen Sommer genau dort ihr Album auf, von wo aus sie nun fröhlich gen Kamera lachen: hoch oben in den Rocky Mountains, in einer restaurierten "Barn" aus dem 19. Jahrhundert, die als "Studio In The Clouds" mit malerischen Aussichten wie bereits beim Vorgänger nach "Colorado" lockt. Es ist wohl von Vorteil, wenn einen solchen Ort Menschen mit Bodenhaftung aufsuchen, sonst – Verzeihung – wird die Luft dünn. Umso besser also, dass Young und seine liebste Begleitband noch nie zum Eskapismus neigten und ebenso wenig Interesse für Hochglanzproduktionen zeigen. Vielmehr ermöglichte ihnen der unkonventionelle Ort, in konzentrierter Manier an den zehn neuen Songs zu arbeiten, die in kaum mehr Tagen dort eingespielt wurden. Aus einem Guss tönen sie entsprechend, zeitlos, unverkennbar, zerzaust.

Zu einem Trio sind Crazy Horse diesmal geschrumpft: Ralph Molina am Schlagzeug, Billy Talbot am E-Bass und Multi-Instrumentalist Nils Lofgren, der 2018 nach Jahrzehnten in die Band zurückkehrte. Von den ersten Sekunden an kennzeichnet "Barn" eine derartig eingespielte Intimität, dass die Grenzen zwischen Live- und Studio-Musik permanent verwischen. Holprige Drums, Akkordeon und die stets präsente Harmonika eröffnen "Song of the season". Young blickt durchs beschlagene Fenster in die Natur, liest in den Kräuseln des Wassers. Bevor sich das Gespenst von Thoreaus "Walden" anmeldet, teleportiert ihn die zweite Strophe in die Stadt und der Opener entpuppt sich vielmehr als Meditation über die Zeit, in der sich auch eine Anspielung auf die englische Queen zu verbergen scheint. Nach dem ruhigen Einstieg beginnt es bald ordentlich zu scheppern in der Scheune: "Heading west" ist ein abgehangener Rocker mit rudimentärem Klavier und aufgerissenem Verzerrer, während "Canerican" Youngs neue Doppelbürgerschaft mit einem Neologismus und Gitarren zelebriert, die über den gesamten nordamerikanischen Kontinent fegen.

Nirgends wird jedoch so wütend drauflos geschrammelt wie in "Human race", das sich mit seiner unheilvollen Hook als Eingeständnis intergenerationaler Verantwortung präsentiert: "Children of the fires and the floods." Die Leadgitarre ist tief in Feedback getränkt, "Le noise" noch lange nicht verstummt. Zwischendurch sprenkelt das Quartett immer wieder Auflockerungen ein wie das schrullige "Shape of you" – zum Glück kein Ed-Sheeran-Cover, sondern sturzbetrunkener Honkey-Tonk – oder das romantische "Tumblin' thru the years", dessen angejazzte Akkorde im Refrain gar kurz an Freundin Joni Mitchell erinnern. Angesichts des immensen Songkatalogs des Mittsiebzigers verblüfft stets aufs Neue, wie jedes seiner jüngsten Alben immer noch Momente im Gepäck hat, die ins Staunen geraten lassen. Auf "Barn" gibt es derer mindestens drei.

"I'm waiting for the boys to bring the truck in / They should have been here by now." Als ominöse Kurzgeschichte hebt "They might be lost" an, ohne seine angespannte Vermutung je verwerfen oder bestätigen zu können. Bald folgt das Youngsche Paradox einer existentiellen Ungewissheit: "I can't quite remember what it was that I knew." Die ausschweifende Mundharmonika trägt der impliziten Tragödie Rechnung, Young spielt sie, als wolle er ohne Worte erzählen. Doch wie so manches Mal auf seinen Alben ist das längste Stück das beste: Die achteinhalb Minuten von "Welcome back" mäandern durch raue Gitarrenpoesie, bis es sich als veritabler Nachfolger von "Cortez the killer" anbietet. Sein Text pendelt zwischen Luzidität und Wahnsinn: "Clouds on the sun that save your skin / But that's just what you're thinking / Shade to shade and it sucks you in / No matter what you're thinking." Zum Abschluss dringen dann die mantraartigen, fragilen Harmonien des Closers aus tiefen Stimmungstälern herauf, auch darum wirkt seine Parole nie abgeschmackt. "Don't forget love" – es muss viel Wahres dran sein.

(Viktor Fritzenkötter)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • They might be lost
  • Human Race
  • Welcome back
  • Don't forget love

Tracklist

  1. Song of the seasons
  2. Heading west
  3. Change ain't never gonna
  4. Canerican
  5. Shape of you
  6. They might be lost
  7. Human race
  8. Tumblin' thru the years
  9. Welcome back
  10. Don't forget love
Gesamtspielzeit: 42:50 min

Im Forum kommentieren

Peacetrail

2022-07-04 08:32:35

Ich habe das Album jetzt nach einem halben Jahr mal wieder gehört, und es ist viel besser und stimmiger als beim letzten Mal.
7/10

Peacetrail

2022-01-22 08:50:47

Der Dokumentarfilm zum Album (Aufnahmen in der besagten Blockhütte) ist jetzt auf YouTube.

https://m.youtube.com/watch?v=mbmkek5j6Vs

Hierkannmanparken

2021-12-24 15:38:51

Für die erste Hälfte des Albums muss ich mich wirklich in dieses Barn-Szenario hineinversetzen und mir das Ganze als intime Liveveranstaltung vorstellen. Ohne den "Scheunengeruch" (velvetcell, danke nochmal) finde ich die Lieder etwas langweilig und teilweise auch anstrengend.

Die zweite Hälfte wiederum finde ich großartig. Die Atmosphäre dieser Lieder lässt dann auch die Scheune um einen herum verschwinden und driftet in noch höhere Sphären ab. Musste bei Welcome Back auch an Cortez denken.

dreckskerl

2021-12-23 20:59:59

"Das hätte man besser machen können"
Das hat mich jetzt schmunzeln lassen...das ganze Album ist ja mit dieser bekifften letitgo-Holzhüttenjam-First Take Attitude aufgenommen, da ist das verunfallt klingende Fade Out nur ein Teil des Ganzen.

oldschool

2021-12-23 20:51:36

Ist Euch schon mal der gnadenlose Fade-Out bei Stücken wie Canerican aufgefallen? Das klingt so, als würde jemand an der Stereoanlage mitten im Song schnell auf Leise drehen, weil er z.B. telefonieren will. Das hätte man besser machen können.

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