Aimee Mann - Queens of the summer hotel

Super Ego / Membran / The Orchard
VÖ: 05.11.2021
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Kontrastmittel

Selbst als Cineast vergisst man es gerne, aber 1999 hat Angelina Jolie einen Oscar gewonnen. Neben Winona Ryder brillierte sie in "Girl, interrupted" (deutsch: "Durchgeknallt") in einer Verfilmung des gleichnamigen Buches von Susanna Kaysen über ihren 18-monatigen Aufenthalt in einer psychiatrischen Klinik in den Jahren 1967 und 1968. Eine tragisches Drama voller Missbrauch, Depressionen und Suizid. Eine Tour de Force, die beim Zuschauen körperliche Schmerzen verursacht. Knapp 20 Jahre später soll Aimee Mann – ihres Zeichens selbst ein Jahr nach Jolie für einen Oscar nominiert – Songs beisteuern für ein geplantes Bühnenmusical basierend auf eben jenem Stoff. Und so bekommt die kühle Meisterin des Zynismus eine Möglichkeit, sich der Materie zu widmen und brilliert auf "Queens of the summer hotel" phasenweise ebenfalls.

Schon auf ihrem letzten Album "Mental illness" zeigte sich Mann deutlich formverbessert, konnte sogar einen Grammy für das beste Folk-Album abstauben und läuft in der Verfassung einfach gleich weiter. Beziehungsweise sitzt sie wie gewohnt die meiste Zeit am Piano und kontempliert über die tragischen Themen. Das steht ihr erfahrungsgemäß sowieso, wird durch die Zeitreise in ein überholtes Amerika aber noch geladener. Wenn sie beispielsweise auf einen Spaziergang mit Pulitzerpreisträgerin Sylvia Plath geht, die den Preis nach ihrem Suizid mit 30 Jahren nicht mehr entgegennehmen konnte, dann klingt das in Walzerrhymtik und hyperromantischen Holzbläsern nach blauer Blume und Todessehnsucht – der Paradedisziplin von Aimee Mann.

Mit Klavieranschlägen, die auch gut auf den "Magnolia"-Soundtrack gepasst hätten, erklärt sie in "Give me fifteen" die ungefähre Zeit, die es vor einem halben Jahrhundert brauchte, um jemanden vorschnell in die Elektroschock-Therapie zu schicken: "In the time it takes you to walk around the block / I can have you scheduled for electroshock." In "Home by now" wird kurz eine Familienidylle als Rahmen gesetzt, nur um dann festzustellen, dass der Vater seine Tochter als kleines Liebesnest bezeichnet, sehr stolz auf ihre Fähigkeit ist, Geheimnisse für sich zu behalten und die Tochter ihrerseits sehr stolz darauf, dass kein anderer Mann als er sie interessiert.

Was in den falschen Händen implodieren könnte, wirkt bei der 61-jährigen Amerikanerin fast schon lächerlich natürlich. Es ist schlichtweg beeindruckend, wie leicht Mann die einfachen Reime von der Hand zu gehen scheinen, die als Kontrast zu den Traumata so bittersüß wirken. Den im wahrsten Sinne des Wortes traurigen Höhepunkt bildet die Single "Suicide is murder". Jede Zeile fühlt sich verboten an und es wirkt boshaft Laissez-faire, wie hier das Thema besungen wird. "Picture yourself. Blood from a cut on your wrist, checking for veins that you missed", singt Mann, um erst am Ende die Konsequenzen zu erwähnen, nämlich Schuldgefühle bei allen Hinterbliebenen. Ein Triumph, dass ihr dieser Spagat gelingt.

Wer allerdings nicht weiß, dass diese Balladen, die vor dem Hintergrund der Bühneninszenierung hier und da mit Streichern und Holzbläser angereichert sind, inspiriert von "Girl, interrupted" sind, der mag irritiert sein – vielleicht sogar die Grenzen des guten Geschmacks übertreten sehen. Doch selbst dann wird man am Ende eingefangen, wenn Mann auf "I see you" eine Hymne für alle schreibt, die an der Klippe hängen und sich unbeachtet fühlen. "Queens of the summer hotel" ist kein nahbares Album, Aimee Mann nicht plötzlich eine ausschweifende Diva, die sich neu erfindet, doch es ist ein faszinierendes Bild, wie sie als pechschwarzer Rabe über der Vorstadt kreist und gezielt herabstürzt und Wunden aufreißt. Das tut weh und das soll es.

(Arne Lehrke)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Give me fifteen
  • Suicide is murder
  • I see you

Tracklist

  1. You fall
  2. Robert Lowell and Sylvia Plath
  3. Give me fifteen
  4. At the frick museum
  5. Home by now
  6. Checks
  7. Little chameleon
  8. You don’t have the room
  9. Suicide is murder
  10. You could have been a roosevelt
  11. Burn it out
  12. In Mexico
  13. Check (reprise)
  14. You’re lost
  15. I see you
Gesamtspielzeit: 40:21 min

Im Forum kommentieren

dreckskerl

2021-11-14 17:05:48

Eine Woche später...

noch einmal der Hinweis auf dieses wundervolle Album, mittlerweile macht mich dieses "Songs-zu-Theater-Konzept" total an.
Die orchestrierten, aber nie überladenen Arrangements sind einfach grandios, die Einzelsongs herausragend und unverkennbar Aimee Mann. So gut, wie seit Anfang der 00er nicht mehr.
Bin wirklich begeistert.
8,5 ach was 9/10, Top Ten in meinen Jahrescharts.

dreckskerl

2021-11-07 21:44:53

Habe auch nach Bachelor No.2 große Freude an "Whatever" von 1993...gleich der Opener könnte auch vom aktuellen Pink-Album das Highlight sein.

Macht sehr viel Spaß und ist richtig gut und ziemlich eklektisch, gar nicht aml so angestaubt wie mamches aus dem Jahr...toll.


Arne L.

2021-11-07 21:28:57

Glaube auch, du hast da recht und ja, „Bachelor No.2“ ist herausragend!

dreckskerl

2021-11-07 21:26:18

Oh, habe das Video nicht geschaut, aber ich denke ich habe da Recht, auch auf anderen Alben nutzt sie ihre Finger nicht für Tasteninstrumente, obwohl! das nicht 100 zwingend sagt, ob sie nicht doch mit Zweifingersystem in ihrem Haus in Vermont? am Flügel, diese wunderschönen Melodien erklimpert.

Höre gerade Bachelor No.2, was für ein großes Album.

Arne L.

2021-11-07 21:16:21

Berechtigter Einwand. Da habe ich mich komplett vom Video zu „Suicide is murder“ in die Irre führen lassen, wo sie definitiv am Piano sitzt. Kurios.

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