Dream Theater - A view from the top of the world

InsideOut / Sony
VÖ: 22.10.2021
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Kunst kommt von Können

Es ist mal wieder an der Zeit, eine Gattung Musiker zu würdigen, die viel zu oft im Schatten ihrer exaltierten Frontleute stehen und über die viel oft zu viel zu flache Witze gerissen werden. Richtig. Bassisten. Auch John Ro Myung gehört vordergründig zu diesen beliebten Opfern, verbringt er doch den Großteil seiner Zeit auf der Bühne relativ stoisch auf seinem Platz zwischen Schlagzeug und Keyboard. Nun ist Myung allerdings nicht irgendein Rhythmusknecht, sondern für die tiefen Töne bei den Prog-Metal-Giganten Dream Theater zuständig, die er bereits 1985 als Student am so berühmten wie teuren Berklee College of Music mit seinem Kommilitonen John Petrucci aus der Taufe gehoben hatte. Und wenn man wirklich einmal dem introvertierten Amerikaner bei der Arbeit am sechssaitigen Bass oder am Chapman Stick zusieht, dann weiß man: Dieser Mann ist schon alleine das Eintrittsgeld wert.

Was hat es also zu bedeuten, wenn so ein Großmeister verkündet, das mehr als 20 Minuten lange Titelstück des neuen Albums "A view from the top of the world" sei so ziemlich das Komplexeste, was er je gespielt habe? Am Alter kann es nicht liegen, Myung ist gerade einmal 54 Jahre alt. Erwartet uns also beim 15. Studioalbum Gefrickel galore? Zunächst einmal erwartet uns die Vorab-Single "Alien", die zunächst etwas ratlos macht. In druckvolle Riffs wird plötzlich ein schwelgerisches Break eingestreut, einfach weil man es kann, dazu kommen irgendwie gewollt spacig verfremdete Vocals von James LaBrie? Klingt erst einmal sperrig bis hin zur Inkonsistenz. Bis der Solopart schon einmal das erste Lächeln ins Gesicht zaubert.

Ein Lächeln, welches bei "Answering the call" in breites Grinsen übergeht. Was hat man bitte Dream Theater ins Essen gemischt? War schon die Vorgängerplatte "Distance over time" der erste Befreiungsschlag vom viel zu verkopften Konzept-Drama "The astonishing" aus dem Jahr 2016, lassen die New Yorker endlich wieder einmal ihrer Kreativität freien Lauf und liefern vor allem in Person von Petrucci an der Gitarre und Keyboarder Jordan Rudess ein Ideenfeuerwerk nach dem anderen ab. Da wird passgenau ein Thrash-Riff in das ansonsten epische "Invisible monster" implantiert, so dass man nicht weiß, ob man nun zuerst staunen oder headbangen soll, da darf Rudess auf "Sleeping giant" einmal komplett eskalieren – auch wenn, welch Schande, der kleine Ragtime-Part nicht zum ersten Mal eingesetzt wird.

Und dann ist da noch der erwähnte Brocken "A view from the top of the world". Nicht dass Longtracks für Dream Theater außergewöhnlich wären, Songs über zehn Minuten Länge sind eher die Ausnahme als die Regel. Doch 20 Minuten sind schon eine andere Liga, im umfangreichen Backkatalog finden sich mit "A change of seasons", "Six degrees of inner turbulence" und "Octavarium" nur drei Songs mit einer noch längeren Spielzeit, wobei "Six degrees of inner turbulence" eher als Suite anzusehen ist. "A view from top of the world" hingegen wirkt vom ersten Akkord an wie aus einem Guss, schweift ab, erforscht und kommt doch immer wieder zum Grundthema zurück. Das ist nicht mehr und nicht weniger als die hohe Kunst der Longtracks. Und doch ist es müßig, dieses Album in den gesamten Kanon der New Yorker einzusortieren, vor allem, da die legendären ersten Alben bis hin zu "Scenes from a memory" wohl auf ewig alles überstrahlen. Doch Dream Theater klangen lange, sehr lange nicht so entschieden, so wie eine Einheit, die teils über Jahrzehnte miteinander eingespielt ist. Das Maß aller Dinge im Prog Metal ist endgültig zurück.

(Markus Bellmann)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Answering the call
  • Sleeping giant
  • A view from the top of the world

Tracklist

  1. Alien
  2. Answering the call
  3. Invisible monster
  4. Sleeping giant
  5. Transcending time
  6. Awaken the master
  7. A view from the top of the world
Gesamtspielzeit: 70:19 min

Im Forum kommentieren

Gomes21

2021-10-31 16:26:04

Hab mal reingehört, aufs erste Hören auch erst mal ganz gut, für mich durchaus überraschend.
Klar; Dream Theater macht für meinen Geschmack von so ziemlich allem zu viel und entwaffnet sich damit selbst.
Die Riffs kommen mir auch so „schon gehört“ vor, ein paar könnten tatsächlich von früheren Opeth Platten kommen, Ghost Reveries lässt grüßen. Allerdings ohne die atmosphärische Dichte; Dream Theater können mich einfach nicht berühren.

Aber ein ganz hörbares Album.

NeoMath

2021-10-31 12:29:18

@Mr Oh So

"Wie gehen diese beiden Aussagen denn zusammen?"

Ich fand die letzten DT Alben nicht sehr ansprechend. Auf der neuen ist das musikalische wieder sehr deutlich besser. Allerdings fehlt es mir insgesamt in der emotionalen Tiefe, wobei ich zugeben muss, dass es bei derart anspruchsvoller Musik auch schwer ist, das herzustellen.

Mr Oh so

2021-10-31 12:07:16

Sroffus

Gute Musik muss ja nicht zwangsläufig Gefühle transportieren.


Dass sie Gefühle auslöst - und das sehr unmittelbar - ist die Essenz von Musik. Okay, ich gebe zu, es gibt noch andere Arten von Musik, zum Beispiel solche, die schlicht und einfach zum Tanzen animieren soll. Das ist dann eine Art Gebrauchsmusik. Aber wenn ich mir 70 Minuten ein Album von Dream Theater anhören und es mich kalt läßt, dann stimmt da irgendetwas nicht.

Deshalb greift auch der oft gehörte Vorwurf, DT würden sich nur in Gefrickel ergehen, für mich nicht. Ich höre DT gerade wegen der Emotionen, dem Drama, der Achterbahnfahrt, auf die mich die Songs mitnehmen.

Sroffus

2021-10-31 12:03:24

Gute Musik muss ja nicht zwangsläufig Gefühle transportieren.

Mr Oh so

2021-10-31 12:01:15

NeoMath

Leider entbehrt die Musik auch jegliches Gefühl.

Bei allem Gemaule: Dream Theater waren lange nicht mehr so gut!



Wie gehen diese beiden Aussagen denn zusammen?

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