Moor Mother - Black encyclopedia of the air

Anti / Indigo
VÖ: 17.09.2021
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 6/10
6/10

Höchste Zeit

Unterdrückung kann viele Formen annehmen. Neben den schlimmsten Auswüchsen staatlicher und körperlicher Gewalt zeigt sie sich auch in abstrakten Kategorien, welche die völlig von Genre-Mustern gelöste künstlerische Entfaltung verhindern. Vielleicht ist die Musik von Camae Ayewa alias Moor Mother deshalb so effektiv, weil ihr Protest von Anfang an auch ein radikal formaler war. Ob allein oder mit anderen verwirklicht: Ihre poetischen Narrative, deren spirituelle und historische Verzweigungen stets auf reale, gegenwärtige Phänomene von Rassismus und Ausbeutung verweisen, benötigen einen Raum, für dessen Absteckung selbst so dehnbare Begriffe wie Noise oder Jazz zu kurz greifen. Ihr fünftes Solo-Studioalbum "Black encyclopedia of the air" will sich als eine Art Orientierungshilfe für Zeitreisende verstanden wissen und scheint damit weiterhin im Kosmos der Freiförmigkeit zu treiben. Doch etwas ist anders. Dieses Mal lässt sich ein Großteil der Songs ohne schlechtes Gewissen unter das Label "Experimental-HipHop" einordnen, weil er tatsächlich dem Diktat der Struktur folgt. Die gemeinsam mit Olof Melander entworfenen Texturen sind komplex und eigen, setzen sich aber zu klar konturierten Beats und Flows zusammen. Kurz: Ayewa hat ihr bisher zugänglichstes Werk veröffentlicht.

Könnte dieses Zugeständnis an bekömmlichere Klänge ein Zeichen der Resignation sein? Zumindest wirkt Ayewa im Opener "Temporal control of light echoes" eher erschöpft als aufrührerisch, auch wenn jener Track mit seinem dissonanten Rauschen aus Spoken Word, Synths und Percussion eine gewohnt fordernde Einstiegshürde darstellt. "Mangrove" etabliert im Anschluss den Hauptmodus der Platte, entwickelt mit verschobenen R'n'B-Orgeln und den rhythmisch griffigen Parts von Elucid und Ayewa selbst einen leicht windschiefen, aber smoothen Groove. Tiefe Atemgeräusche sind hier zu Beginn zu hören und genau das scheint die sonst so unruhige Aktivistin hier im Sinn gehabt zu haben: einmal tief durchzuatmen, einen safe space für sich und ihre große Feature-Liste vornehmlich schwarzer und queerer Künstler*innen hochzuziehen, in dem sie ihre eigenen Ideen von Rap und Pop formen können. "Rogue waves" verbaut sogar eine Referenz an Missy Elliott, während "Shekere" mit seinem Klezmer-artigen Geigen-Sample eine melodische Hook umrahmt. Die Zugänglichkeit dieser zerklüfteten Zweiminüter ist freilich relativ zu verstehen, doch in den ersten zwei, vom wundervollen Mutterliebe-Pamphlet "Made a circle" abgerundeten Albumdritteln macht sich ein Gefühl breit, das auf einem Moor-Mother-Werk nur selten zu vernehmen ist: Entspannung.

Zumindest, solange man nicht genau auf die Texte achtet, die nichts an schmerzvoller Intensität eingebüßt haben – Wundmale der Sklaverei durchziehen etwa die astralen Massagen von "Vera Hall" oder "Race function limited". Im letzten Akt entlädt "Black encyclopedia of the air" dann doch seine zuvor angesammelten Kräfte. Erst reißt das sechsminütige "Tarot" ein Spiritual-Jazz-Skelett an den Rippen auseinander, um einen Ambient-Teppich aus Geräuschen und Erinnerungen an das Leid der Ahnen auszubreiten. Dann findet "Zami" doch zur Aggression, wie Stahlpressen kommen die harsch verzerrten Synth-Wände immer näher, ehe "Clock fight" mit westafrikanischen Agitations-Trommeln und aufgestachelter Fiedel die lineare Zeit selbst, die fortlaufende kapitalistische Zerräderung zum Feind erklärt. "I ain't got to fight no more", skandiert Ayewa hier, was paradox ist, da sie genau das mit dem gleichen Feuer wie immer tut. Doch die kohärente, widerspruchsfreie Produktion von Sinn ist auch nur eine der aufgezwungenen Ordnungsfesseln von Kunst, die Moor Mother schon längst aufgebrochen hat.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Mangrove (feat. Elucid & Antonia Gabriela)
  • Shekere (feat. Lojii & Saydah Ruz)
  • Made a circle (feat. Nappy Nina, Maassai, Antonia Gabriela & Orion Sun)
  • Clock fight (feat. Elaine Mitchener & Dudù Kouate)

Tracklist

  1. Temporal control of light echoes
  2. Mangrove (feat. Elucid & Antonia Gabriela)
  3. Race function limited (feat. Brother May)
  4. Shekere (feat. Lojii & Saydah Ruz)
  5. Vera Hall (feat. Bfly)
  6. Obsidian (feat. Pink Siifu)
  7. Iso fonk
  8. Rogue waves
  9. Made a circle (feat. Nappy Nina, Maassai, Antonia Gabriela & Orion Sun)
  10. Tarot (feat. Yatta)
  11. Nighthawk of time (feat. Black Quantum Futurism)
  12. Zami
  13. Clock fight (feat. Elaine Mitchener & Dudù Kouate)
Gesamtspielzeit: 32:06 min

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Armin

2021-09-29 20:00:04- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

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