Sault - Nine

Forever Living Originals
VÖ: 25.06.2021
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Beieinander

Am 25. Juni 2021 wurde der US-amerikanische Polizist Derek Chauvin für die Ermordung George Floyds verurteilt. Mit einer fast schon unheimlichen Koinzidenz veröffentlichten Sault am selben Tag ihr fünftes Album "Nine", nachdem ihre 2020er-Werke "Untitled (Black is)" und "Untitled (Rise)" kurz nach Floyds Tod die Inhalte der "Black Lives Matter"-Proteste in aufgeweckten Neo-Soul und -Funk kanalisierten. Das offiziell noch immer anonyme Kollektiv um – mutmaßlich – Inflo, Cleo Sol und Kid Sister lässt weiterhin nur die Musik sprechen. "Nine" kam aus dem Nichts, verschwindet nach 99 Tagen wieder aus allen Streamingdiensten und Online-Shops und liefert wie gewohnt keinerlei nicht-akustisches Beiwerk. Einzig ein kurz zuvor erschienener Instagram-Post ließe sich als eine Art Mission Statement lesen. Saults Sprache bleibt global, doch ein Blick auf die Tracklist verrät bereits, dass sie ihren Fokus hier auf intimere Geschichten sowie auf ihre britische Heimat einengen. Es geht um Gangs, Drogen und Alkohol, um die Oberflächenphänomene struktureller Missstände, die dazu führen, dass sich schwarze und andere marginalisierte Communities von innen heraus zerfressen. Doch wie schon auf den Vorgängern vollzieht sich die Klage darüber nie in starrer Trauer.

Ganz in Tradition ihrer geistigen Vorreiter wissen Sault nach wie vor um das Beieinander von Protest und Bewegung, Wut und Ekstase. Das Intro "Haha" scheint die Platte mit Handclaps und Kinderreim-Gospel gar im Jubel zu beginnen, doch die Sanftheit findet ein jähes Ende. Fieberhaft hetzt "London gangs" durch die Straßen, der stark verzerrte Bass und der rumpelnde Drum-Loop erinnern fast ein bisschen an The Chemical Brothers. "Trap life" rekurriert mit klassischerem Funk-Rhythmus und Cop-kritischen Lyrics wieder stärker auf die Trademarks der Band, ehe auch hier in der letzten Minute die Desorientierung greift. Nimmt man noch "Fear" mit seinem staubtrockenen Beat, den brodelnden Synthies und unmenschlichen Vocal-Samples hinzu, verfestigt sich der Eindruck, dass sich Sault dieses Mal mehr die elektronische Musikgeschichte ihres Heimatlands zur Vermittlung ihrer Botschaften zueigen machen. Das ändert freilich nichts an deren Greifbarkeit und Intensität, denn "the pain is real, the realest". Das weiß auch Michael Ofo, wenn er in der Spoken-Word-Vignette "Mike's story" mit entsetzlicher Nacktheit von dem Tag erzählt, als er von der Ermordung seines Vaters erfuhr. Es schnürt einem die Kehle zu.

In seiner zweiten Hälfte wendet sich das zuvor Groove-orientierte Album stärker der Melodie zu, ohne dabei plötzlich von der Harmonie zu künden. "Alcohol" ist ein von warmen Keyboard-Klängen umschmeichelter Schmerzgesang auf die Tücken chemischer Realitätsflucht. Ein sich aus dem Nichts ergießender Streicher-Schwall hebt "Bitter streets" in höhere Sphären, während Cleo Sol alte Narben aufreißt: "I remember when we were young / You made friends with a gun." Der Lounge-Jazz-HipHop von "You from London" holt derweil Little Simz dazu, um von der Komplexität dieser Gang-Realität zu erzählen: "We don't wanna cause any grief / But we get triggered when hearin' the sound of police." Trotz der gewichtigen Themen endet "Nine" mit einem Gefühl, das man nicht primär auf einer Sault-Platte vernimmt: Hoffnung. "I am made of love", singt Sol im um eine zitternde Gitarre gebauten Psychedelic-Soul von "9" und die letzten Worte der Piano-Ballade "Light's in your hands" lauten: "Don't ever lose yourself / You can always start again." Beide Tracks verharren jedoch nicht einseitig im Optimismus, verweben weitere Spoken-Word-Beiträge über systemisches Unrecht, das bereits ab der Jugend greift. Es ist dieses Beieinander von Angst, Schmerz und der daraus gewachsenen Widerstandskraft, das die Protestmusik von Sault so effektiv macht.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • London gangs
  • Bitter streets
  • 9

Tracklist

  1. Haha
  2. London gangs
  3. Trap life
  4. Fear
  5. Mike's story (feat. Michael Ofo)
  6. Bitter streets
  7. Alcohol
  8. You from London (feat. Little Simz)
  9. 9
  10. Light's in your hands
Gesamtspielzeit: 34:06 min

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Klaus

2021-10-20 17:17:37

@Loke

" Nie wieder Platten aus UK. Ich lese immer schon so irre Zoll- und Portosachen bei Discogs, jetzt bin ich direkt selbst betroffen."

Betrifft sämtliche außer-EU Bestellungen - nicht nur UK. Seitdem im Juli die 22-€-Zollgrenze aufgehoben wurde und nun alles vezollt werden muss, ist es deutlich schwerer geworden, im Ausland zu bestellen.

Und natürlich: der Brexit wird dadurch noch absurder.

Loketrourak

2021-10-20 17:08:59

Doppelbrexitärger (s.o.)!

Gestern kam sie endlich an - direkt aus UK, weil im Juni bei Ankündigung gleich dort vorbestellt. Kostenpunkt: Arschige 35 Pfund inkl. Porto! Aber OK, die Vorgänger waren auch nicht günstig auf Vinyl, und nicht ganz einfach erhältlich - sicher ist sicher.
Nun ist die Nine die erste, die einigermaßen bezahlbar (rund 22 €) in die deutschen Läden kam. Nagut *knirsch*.

Und jetzt musste ich aber noch 10,43 Zoll & Bearbeitung nachbezahlen (beim Briefträger, kannte ich auch nicht)!

Nie wieder Platten aus UK. Ich lese immer schon so irre Zoll- und Portosachen bei Discogs, jetzt bin ich direkt selbst betroffen.

Loketrourak

2021-10-14 12:40:24

MP3 zu besitzen heißt auch wo und wann ich will.
Für Künstler, die eher eine Nische bedienen ist Streaming nicht lohnenswert. Das es für den Nutzer convenient (und freundlicherweise umsonst) ist, ist klar. Ich kann wirklich nicht gut damit leben, dass Daniel Ek von Spotify innerhalb von ein paar Jahren ein größeres Vermögen anscheffeln konnte, als Paul McCartney (einem der vermutlich reichten Musikern der Welt). Dies auf Basis der Idee, jedwedes kreative Material jedem umsonst verfügbar zu machen.
Natürlich wird sich diese Uhr nicht zurückdrehen lassen, aber man sollte es den Künstlern selbst überlassen, ob sie das mitmachen wollen, oder nicht.

Plattenbeau

2021-10-14 11:03:31

Streaming heißt doch Zugriff wo und wann ich will. Was soll ich dann mit einer Probezeit von 3 Monaten anfangen, wenn meine Playlists danach nicht mehr vollständig nutzbar sind. Ich verstehe, dass Künstler über neue Mittel und Wege nachdenken. Streaming wird aber nicht verschwinden, weil es simpel, praktisch und bequem ist. Schallplatten und andere klassische Medien werden weiter Liebhaber finden, aber letztlich nur eine Nische bedienen.

Loketrourak

2021-10-14 09:34:04

Ja, auch "digital physisch" (mp3) wirft natürlich mehr ab, als Streaming.
Ich halte das auch nicht für elitistisch. Niemand sollte gezwungen sein, seinen kreativen Output umsonst zu teilen (vor allem wenn man als Hörer mehr als drei Monate Zeit hatte, wenn man denn unbedingt nix dafür bezahlen will).

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