Steven Wilson - The future bites

Caroline / Universal
VÖ: 29.01.2021
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Kauf mich!

Da hat Steven Wilson ja mal eine Welle losgetreten. Mit "To the bone" stieß der Brite im Jahr 2017 so manche Fans vor den Kopf. Zu poppig, zu mainstreamig, so urteilte die Zuhörerschaft und empörte sich kräftig. So kräftig, dass man hätte meinen können, er sei ein Auftragsmusiker, der seine Alben auf Bestellung zu komponieren habe. Und jegliche Abweichung davon wird mit sofortigem Liebesentzug bestraft. Nun, eigentlich sollte klar sein, dass das Wilson mal überhaupt nicht anficht. Denn seine künstlerische Vision sorgte nicht zum ersten Mal für einen Stilwechsel – man erinnere sich an den Wandel von floydischen Sphären hin zu krachendem Metal mit Porcupine Tree. Wenn Wilson nun also meint, seine Vision des Progressive Rock sei auserzählt, dann ist das zunächst einmal seine Ansicht, die es zu respektieren gilt, ob es einem nun gefällt oder nicht.

Nun hatten die derart brüskierten Anhänger jede Menge Zeit, sich über "The future bites" zu echauffieren, wurde doch die Veröffentlichung wegen der Corona-Pandemie gleich um ein Dreivierteljahr verschoben. Und die zwischendurch eingestreuten Soundhäppchen heizten diese Stimmung noch weiter an, weil daraufhin fast das Gesamtkonzept außer Acht gelassen wurde. Denn am Ende geht es um die heutige Konsumgesellschaft, darum, sich Dinge zu kaufen, die man sich nicht leisten kann, um Leute zu beeindrucken, die man nicht leiden kann. Hierfür wurde im Netz eine Hochglanzwelt kreiert, die die absurdesten Dinge wie Luft in Dosen anpreist oder aber abenteuerlich bepreiste Album-Editionen. Was ist Fakt, was ist Fake? Wo ist die Substanz, wo der Schein? Die Grenzen sind fließend.

Ist nun also "The future bites" mehr Schein als Sein? Natürlich nicht. "King ghost" beispielsweise ist durch seine radikalen elektronischen Beats so verstörend wie überzeugend, verkörpert abstoßende Kälte, um dann letztlich doch zu hypnotisieren. Dem gegenüber steht das nur vordergründig fluffige "12 things I forgot", welches locker auch auf einer Blackfield-Platte seinen Platz gefunden hätte, aber in seinen Lyrics voller Selbstzweifel steckt: "Now I sit in the corner complaining / Making out things were best in the eighties." Doch bevor hier zu viele menschliche Gefühle aufkommen, zeigt "Eminent sleaze" die zynische Fratze des kalten Business-Wesens, der für seine Ziele über Leichen geht: "A flash of my teeth and / You hand your car keys over / A flick of my wrist and ... / And I seduce your sister." Nein, das kann man einfach nicht auf eine kuschelige Prog-Sänfte betten, hier muss es der trocken slappende Bass sein.

Die Essenz des Albums allerdings ist das fast zehn Minuten lange "Personal shopper", dass wegen seiner Dance-Beats ebenfalls schon für hinreichendes Entsetzen bei so manchen Fans gesorgt hatte. Auf Wilsons Falsett-Gesang soll hierbei gar nicht eingegangen werden, den kann man eh nur lieben oder hassen. Doch abseits dieser Debatte treibt dieser Song unerbittlich voran, saugt die Aufmerksamkeit der Hörer in sich auf wie der Konsumtempel die Kundschaft. "Buy online and in the shopping mall", so wird um Aufmerksamkeit gebuhlt, doch der Teufel wartet bereits: "Sell it on, then buy it back / Buy the shit you never knew you lacked". Plötzlich ein brutales Break, und kein Geringerer als Sir Elton John präsentiert eine Produktwelt aus Absurdistan. Nicht ohne Ironie, werden doch auch "180 gram vinyl reissues" angepriesen, verbunden mit der Botschaft "Buy the box set and the kind of stuff / You've bought before a million times." Früher hätte es dazu krachende Riffs gehagelt, heute eben Umz-Umz aus der Konserve.

Man kann es sich jetzt leicht machen und den 1967 geborenen Steven Wilson als typischen Boomer hinstellen, der auf die heutigen Herausforderungen der Digital Natives mit Unverständnis und Arroganz reagiert und dabei versucht, sich an heutige musikalische Gepflogenheiten anzubiedern. Die kritische bis überspitzte Kritik an zu schnellem Konsum, vor allem wenn es um Musik geht, hat der Brite jedoch schon früh geäußert – oder sind Songs wie "The sound of muzak" und "Four chords that made a million" schon vergessen? Oder der geradezu rituell zerstörte iPod aus der Dokumentation auf der "Insurgentes"-DVD? Nein, der Kern ist, dass Wilson maximale Aufmerksamkeit verlangt, es geradezu einfordert, sich eindringlich mit seinen Intentionen zu befassen. Genau das macht überhaupt die Faszination des immer noch jungenhaft wirkenden Briten aus. Und wenn sich dann einige Fans abwenden, dann ist es eben so. Denjenigen, die dennoch bleiben, öffnen sich wieder einmal neue Blickrichtungen.

(Markus Bellmann)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • King ghost
  • Eminent sleaze
  • Personal shopper

Tracklist

  1. Unself
  2. Self
  3. King ghost
  4. 12 things I forgot
  5. Eminent sleaze
  6. Man of the people
  7. Personal shopper
  8. Follower
  9. Count of unease
Gesamtspielzeit: 42:01 min

Im Forum kommentieren

keenan

2022-09-13 17:24:02

ausführliches interview mit steven

https://www.youtube.com/watch?v=xB1ZDhK2dLM

Superhelge

2022-06-24 20:21:41

Die ganzen Alben von Steven, die ich am Anfang so mittel fand, find ich mittlerweile auch geil.

Ein größeres Kompliment, als dass Musik immer besser wird, kann man ein Künstler vermutlich nicht machen...

Oceantoolhead

2022-06-16 14:32:22

Also ich war am Anfang auch alles andere begeistert, aber jetzt mit einem Jahr Abstand muss ich doch sagen. Die Platte hat eine gute Halbwertszeit, oder anders - ich finde sie deutlich besser als in meiner Erinnerung. Aufjedenfall deutlich über To the Bone in meiner persönlichen Rangliste von PT und SW Alben. King Ghost und Personal Shopper sind die Highlights für mich. Eventuell hätte es sogar noch ein Song mehr sein können.

Hoschi

2021-12-07 12:14:16

Ich geh da direkt mit Keenan mit.
Insurgentes erinnert mich stark an Deadwing, hör ich aber seltsamerweise selten.
Graces drückt mir zu sehr aufs Gemüt, wenn auch gut gemacht.
Raven frickelt zu sehr und will mir persönlich zu viel King Crimson und YES in einem sein.
HCE hat zwar mit dem Titeltrack einen, mir persönlich, schon viel zu sehr anbiedernden Pop Song als 12 Things i forgot aber die anderen Songs sind einfach klasse.
Auch das spoken Word/irgendwas perfekt Life, was mir hier viel zu schlecht weg kommt.
Ich sehe diesen auch gar nicht direkt als Song sondern eher als Überleitung/interlude.

Ja, musikalisch ein wenig gealtert ist die dann schon (ich höre deutlich weniger Prog und Postrock als vor 10 Jahren), und ich würde heute wohl keine 10/10 mehr zücken, aber ne 9/10 ist sie mindestens noch.

keenan

2021-12-07 10:32:57

und ich sehe HCE noch am nächsten was die porcupine tree outputs betrifft :-D

die solosachen davor, waren mir einfach zu frickelig, jazzig

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