Die Ärzte - Hell

Hot Action / Universal
VÖ: 23.10.2020
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

German scheppert

Schlappe achteinhalb Jahre nach dem letzten Album von Die Ärzte – sogar länger als die Pause während ihrer Auflösung zur Wendezeit – kann man es mal wieder festhalten: "Alles ist Punk." Die (wie wir Marketing-Fuzzis sagen) On-Brand-Message der ersten, sehr schmissig scheppernden Single aus "Hell" namens "Morgens pauken" ist nichts Neues, aber genau das, was man gebraucht hat. War Punk 1998 noch "Arschlecken und Rasur", ist es anno 2020 unter anderem ein "Schließfach bei der Bank" oder der "Pelzmantel im Schrank". Natürlich aber auch klassisch: "Vollgetankt ziehst Du blank / Du bist Punk." Zudem ist der Song das Ergebnis echten Teamworks: Drummer Bela B. schrieb den Text, welchen Farin Urlaub und Rod Gonzáles gemeinsam am Mikro vertonen, von letzterem stammt die Musik. Ein Symbol für die neu gefundene Einigkeit, nachdem der Vorgänger "Auch" ernsthafte mannschaftliche Ermüdungserscheinungen zeigte und die weitgehend paritätische Songwriting-Verteilung zu einer recht zerrissenen Platte führte. Auf "Hell" ist mit "Polyester" nur noch ein weiterer Rod-Song vorhanden, der eine hübsche Melodie mit sich führt und sonst nicht weiter stört.

Diesmal hat das Trio die Auswahl offenbar tatsächlich nach Qualität und nicht nach Credits getroffen, höchstens wäre die letztjährige Single "Abschied" noch ein Zugewinn anstelle von paar etwas schwächerer Tracks gewesen. Doch für ein 18 Stücke starkes Album unterhält "Hell" erstaunlich durchgängig und fährt viele Highlights auf, die den mediokren "Auch"-Kram locker in die Tasche stecken. Vor allem musikalisch ist die mühelose Meisterung der Stilvielfalt in Verbindung mit den Hooks beeindruckend, auch wenn die Rock-Brecher dadurch rarer gesät sind. "Das letzte Lied des Sommers" schließt nahtlos an "Westerland" an, in "Einmal ein Bier" imitiert Bela B. bewusst oder unbewusst den Flow seines alten Lesungspartners Thomas D – und schießt vor allem mit "Alle auf Brille" den Vogel ab. Das lupenreine Oi-Punk-Stück öffnet sich ein paar Dosen mit Gerstensaft unter dröhnenden drei Akkorden und Herr Felsenheimer stimmt sein Organ um ein bis zwei Rülpser tiefer. "Ich war so oft und schlimm frustriert / Da hab ich mich dann einfach so abreagiert / Alle auf Brille!" Zuvor nimmt er im durchgeknallten "Fexxo cigol" die allgegenwärtigen Aluhutträger zu wiegenden Walzerklängen aufs Korn. Der Hase im Pfeffer: "Ein Waschlappen ist vom Haken gefallen."

Kollege Urlaub lässt sich nicht lumpen und platziert nach der einleitenden Elektro-Verarsche mit "Plan B" ein weiteres Mission Statement der Band. "Dies ist mein Leben / Es gibt keinen Plan B", so verstehen sich Die Ärzte weiterhin. In der zweiten Single "True romance" schüttelreimt der blonde Hüne sich zu relaxtem Gitarren-Streicher-Pop auf die Amazon-Dame Alexa einen formidablen Hit zusammen. "Und lass mir dann noch ein paar neue Tracks da / Von meinem Alter Ego H.P. Baxxter." Unter anderem der revanchierte sich übrigens in einer Art Tribute-Video zur Single. Ernster wird es im zugegeben etwas drögen "Wer verliert, hat schon verloren", das weder die Tiefe noch den Schmiss eines "Kopfüber in die Hölle" erreicht, oder in der einzigen Ballade "Leben vor dem Tod". "Woodburger" machte derweil schon Schlagzeilen, weil hier die AfD in einem wahnwitzigen Twist quasi von hinten infiltriert werden soll. "Wo kommen all die zornigen Männer her / Mit ihrer panischen Angst vor Analverkehr?" Das passt in die Tradition der überzeichneten Closer wie "Opfer" oder "Grotesksong" – und funktioniert als Provokation besser als die "Kopfhaut"-Imitation "Liebe gegen Rechts", das etwas ungeschickt Rechtsextremismus, Kleptomanie und Transsexualität in den Strophen verquirlt. Zumal mit der Antwort auf die Zeile "Das Lustige ist, die halten sich für gute Christen" der beste Mini-Gag der Platte folgt.

Der mehrfach im Zitat verwurstete Frank Zappa fragte einst per Albumtitel: "Does humor belong in music?" Wie Die Ärzte diese Frage beantworten, ist klar. Doch selten funktioniert die Verbindung von Humor und Tragik so gut wie im nicht nur besten Song dieser Platte, sondern einem der besten Stücke der Band überhaupt. Über einen Fotoalbum-Text chronologisiert Farin Urlaub in "Ich, am Strand" ein ganzes Leben mit verschmitzten Kommentaren. Der Verlust der Eltern bleibt in kindlicher Naivität nur impliziert. Die Pubertät gestaltet sich gewöhnlich: "Ich mit Nina, Hose beult / Ich ohne Nina, schwer verheult." Die Wendung am Ende und die tragische Pointe vor dem letzten Refrain hauen umso mehr rein, unterstützt durch die angepasste Instrumentierung des Wechsels zwischen Akustik-Gezupfe und Ska-Sonnigkeit. Genau aufgrund solcher Kompositionen haben Die Ärzte diesen einzigartigen Status in der deutschen Musiklandschaft.

So kann man sich als mitterweile seit (brutto) vier Jahrzehnten aktive Elder Statesmen schon mal einen Kurzauftritt in den altehrwürdigen Tagesthemen erlauben oder als Gimmick das Vinyl des Albums exakt 181 Gramm schwer machen. Für solche Gags kennt und liebt man die Band. Im Gegensatz zur digitalen Version sind die Songs auf der physischen Version an wenigen Stellen durch kleine Einspieler anders verbunden. Einen großen Unterschied macht das nicht – eigentlich hätte man sich mehr latent bekloppte Dialoge gewünscht wie das Gespräch, das in naiver Hörspieltradition vor "Warum spricht niemand über Gitarristen?" ins Thema führt. "Hell" hat aber schon ohne diese Zusätze mehr treffende Gags, kleine Abspielungen und musikalische Abwechslung, als man zu hoffen gewagt hatte. Ach Alexa, da lass' ich sogar mehr als nur 'ne sechs da.

(Felix Heinecker)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Morgens pauken
  • Ich, am Strand
  • True romance
  • Alle auf Brille
  • Woodburger

Tracklist

  1. E.V.J.M.F.
  2. Plan B
  3. Achtung: Bielefeld
  4. Warum spricht niemand über Gitarristen?
  5. Morgens pauken
  6. Das letzte Lied des Sommers
  7. Clown aus dem Hospiz
  8. Ich, am Strand
  9. True romance
  10. Einmal ein Bier
  11. Wer verliert, hat schon verloren
  12. Polyester
  13. Fexxo cigol
  14. Liebe gegen Rechts
  15. Alle auf Brille
  16. Thor
  17. Leben vor dem Tod
  18. Woodburger
Gesamtspielzeit: 61:03 min

Im Forum kommentieren

Bernd

2021-09-24 12:17:30

Dobly is echt geil

BVBe

2021-07-02 10:29:53

Single "NOISE" mit zwei echten B-Seiten auf BADEMEISTER angekündigt. Kerl, was waren die produktiv ...!!!

Superhelge

2021-07-02 00:05:25

Geil, wegen der Vorschau zu Dunkel hab auch ich jetzt mibekommen, das es letztes Jahr n neues Album gab. Nach der Single Pauken hatte ich die Jungs nicht mehr auf dem Radar... oha...

VelvetCell

2021-05-18 10:30:16

Ich besaß erst Platten, konnte dann aber in den Neunzigern einige Alben nicht mehr auf Vinyl bekommen (CD-only) und habe mir deswegen einen CD-Player angeschafft, der damals für mich als Azubi auch teuer war.

Heute bin ich Vinyl-only-Hörer und musste mir deshalb einige (viele ...) Alben doppelt anschaffen, weil ich sie nur auf CD besaß. Über einen Vinyl-only-Release freue ich mich ich (und denke dabei ganz ignorant kein Stück an die CD-Hörer).

jo

2021-05-18 10:19:43

Es ging ja um "Vinyl only", so stand es in der Ankündigung auch drin. Mehr nicht.

Okay. "Single only" wäre also passend und dementsprechend weniger "nervig" gewesen. Verstehe.

Mit Sicherheit war das auch, vielleicht sogar vor allem noch in den Sechzigern eine Einstiegshürde für einige Leute.

Nein. "Einstiegshürde", wie du es benutzt hattest, hat ja heute einen anderen Kontext als damals. Heute bedeutet es, dass es andere Medien als Alternative gibt und dass du Vinyl als "teuer" einstufst. Damals gab es diese Alternativen nicht - und ebenso wie heute gab es auch damals sehr günstige Geräte, die sich die Leute eben gekauft haben. Da war nichts mit "Hürde".

Und auf die Situation in den 80ern und 90ern (selbst in den 2000ern) passt deine Beschreibung erst recht nicht, da damals die CD klar das teure Medium war (ebenso die Abspielgeräte). Da wäre das also die Hürde gewesen. "Menno, wieder CD-only-Singles..." hat man dennoch nicht wirklich gehört.

Oder willst du jetzt wirklich auf die Personen hinaus, die sich generell keine Musik leisten können und "damals" auch nicht leisten konnten? Falls ja, hast du in diesem Punkt Recht. Die soll es geben und gegeben haben. Habe ich aber auch nie angezweifelt.

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