Widowspeak - Plum

Captured Tracks / Cargo
VÖ: 28.08.2020
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10
9/10

Harter Kern

Dream-Pop. Gibt es ein Musikgenre, das enger mit Eskapismus verzahnt ist? Jeder Saitenanschlag, jedes zart gehauchte Wort scheint einzig die Flucht aus dem Hier und Jetzt im Sinn zu haben. Man kann sich bei noch so ungemütlichem Wetter auf eine warme Frühlingswiese unter strahlend blauem Himmel transportieren lassen. Oder man schwelgt in einer diffusen Nostalgie, in der jeder vergangene Glücksmoment noch zehnmal schöner erscheint, als er tatsächlich war. Das New Yorker Duo Widowspeak passt akustisch eigentlich perfekt in diese Klischees. Sängerin Molly Hamilton klingt wie die kleine Schwester Hope Sandovals und lässt sich von Robert Earl Thomas' Gitarren-Ornamenten umgarnen. "Plum", ihr bereits fünftes Album, kuschelt sich sogar noch weicher ins Ohr als seine Vorgänger: weniger Shoegaze-Fuzz, dafür klarere, akustische Americana-Ansätze, die etwas an den legendären Laurel-Canyon-Sound erinnern. Doch unter all dem Wohlklang singt Hamilton keineswegs von Idyllen und Sorglosigkeit – stattdessen geht es um den Kapitalismus und das geschundene Seelenleben der von seinen Mechanismen eingesponnenen Menschen. Widowspeak verschließen sich nicht vor der Gegenwart, sie verpacken sie schlicht in eine fluffige Schaumstoffbox.

Von deren düsterem Inhalt ist zu Beginn jedoch noch nichts zu spüren. Im eröffnenden Titeltrack webt Thomas' entspanntes, aber verästeltes Gitarrenspiel einen schimmernden Sepia-Umhang, während sich seine Partnerin in seliger Ignoranz übt: "I feel nothing, I feel dumb / You're a peach and I'm a plum." Es ist ein vielleicht etwas flacher, aber dennoch wundervoll wohltuender Midtempo-Hit. "The good ones" bringt musikalisch mehr Schärfe rein: Shuffle-Drums entwickeln in Kombination mit Vier- und Sechssaiter einen schattigen Groove, der Hamilton zunächst ein Selbstduett im Refrain eröffnet und nach zweieinhalb Minuten in einen atmosphärischen Break kippt. Auch "Money" lebt von seinem Momentum, erzeugt allerdings einen Kontrast zwischen seinem lebendigen Jangle-Riff und den erschöpften Vocals. Die rhetorische Frage "Will you get back what you put in?" weicht dem soghaften Mantra "Money doesn't grow on trees" und man stellt sich kurz vor, wie viel resoluter sich jede Regierung bei der plötzlichen Entdeckung von Geldbäumen um den Umweltschutz bemühen würde. Der verflixte Zaster treibt den Protagonisten von "Breadwinner", dessen Job sein gesamtes Leben ausfüllt, schließlich in die totale psychische Zerräderung. Heizstrahler-Synthies und die empathische Erzählperspektive liefern die Therapie jedoch gleich im selben Song. Umwerfend.

Wäre das komplette Album auf dem Niveau seiner ersten vier Tracks, könnte Mr. 7/10 heute mal die Füße hochlegen. Doch leider gibt es nach der Zäsur "Even true love" einen kleinen Knick, der sich auch stilistisch niederschlägt. Wolken ziehen auf und Widowspeak stellen ihr Lagerfeuer zügig auf Sparflamme. Aus der kargen Basslinie von "Amy" sprießt noch eine üppigere Hook, doch "Sure thing" klammert sich im Anschluss an einen einsamen Gitarrenzirkel. "Jeanie" pinselt ein paar Tupfer Französisch auf seinen Electro-Folk, bevor die sphärische Piano-Ballade "Y2K" ein letztes Mal die Ausweglosigkeit unseres Seins anpackt: "I could save all my money / I could spend it all / Pay to climb a mountain / And fall." Nicht falsch verstehen: Auch die zweite Hälfte der Platte besteht aus sehr schönen Stücken, die aus ihrem minimalistischen Songwriting viel herausholen, sie wirken in dieser konzentrierten Reduktion aber schlicht etwas dröge. Vielleicht steckt in der musikalischen Resignation aber auch nur ein weiterer Kommentar. "Plum" legt Dir eine warme Kuscheldecke um die Schultern und drückt Dich ganz fest, nur um Dir dabei ins Ohr zu flüstern, dass höchstwahrscheinlich nicht alles gut wird. Ein so fest in der Wirklichkeit verankerter Trostspender kann manchmal mehr wert sein als pure Realitätsflucht.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • The good ones
  • Money
  • Breadwinner

Tracklist

  1. Plum
  2. The good ones
  3. Money
  4. Breadwinner
  5. Even true love
  6. Amy
  7. Sure thing
  8. Jeanie
  9. Y2K
Gesamtspielzeit: 39:16 min

Im Forum kommentieren

Matjes_taet

2020-12-16 01:00:15

Schöne Rezi, die beiden Schlusssätze treffen voll ins Schwarze.
Bin jetzt endlich dazu gekommen das Album zu hören.

Winter, Corona-Lockdown, Taylor Swift -Höchstbewertungen, sowie die Niederlage gegen hideout im NFL-Manager.
Da brauchte es mal wieder die tröstende Stimme von Molly Hamilton. :-)

"Even True Love" und "Sure Thing" sind für mich ebenfalls Highlights, insofern halte ich die 2. Albumhälfte nicht für so viel schwächer wie vom Rezensent empfunden. Einzig "Jeannie" ist tatsächlich verzichtbar.

Armin

2020-09-15 21:21:07- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

Meinungen?


Matjes_taet

2020-09-06 12:52:13

Sehr gerne gehört, mein Favorit war "Calico".

Mal gespannt auf die Rezi, werde dann auf jeden Fall ins Album reinhören.
Bin froh das die zurück auf dem Schirm sind. Irgendwer muss die Wartezeit auf LdR ja verkürzen...

Marvin

2020-09-06 12:05:07

Ja, die Rezi kommt im nächsten Update.

aleceiffel

2020-09-06 11:28:24

Ich eröffne mal einen neuen Thread, weil ich hoffe, dass dieses großartige neue Album in Kürze auch rezensiert wird. Ist seit dem 28.08.2020 draußen.

Mein Lieblinssong: „The Good Ones“. Man achte besonders auf Minute 3:36, da gibt’s nen geilen Akkord (meine Referenz an Helge Schneider...)!

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