Tocotronic - Sag alles ab – The best of 1994 - 2020
Vertigo / UniversalVÖ: 21.08.2020
Geschwätz von vorgestern
Steile These: Mitte der Neunziger waren Tocotronic vermutlich die ärgerlichste Band Deutschlands, noch vor den unseglichen Sälig. Ich meine umgekehrt. Aber selbst so ein Vertipper wäre den Hamburgern wohl egal gewesen, solange er sie nicht dran gehindert hätte, schiefen und scheelen Indie-Rock samt ungutem Befindlichkeits-Genöle aus verstimmten Klampfen zu drücken und dazu übel gelaunt vor sich hin zu stieren. Wenig später aber schrieben Tocotronic plötzlich richtige, ja richtig gute Songs mit akzentuierter Produktion, Drummer Arne Zank gab live die coolste Sau der Welt, als er während seines akustischen Solo-Sets im Vorprogramm das Publikum wegen Mitklatschens vergatterte und die Zeile "Verflixt noch mal, let there be rock" steckte sogar Helge Schneiders "Yeah, yeah und nochmals yeah" in die Tasche. Also doch: Stars geboren.
1999 war das – gut zwei Jahrzehnte später sind Tocotronic nunmehr die bedeutendste Indie-Band Deutschlands. Eine, die mit Vielseitigkeit und inhaltlicher Tiefe beeindruckt und deren Songs vielfach zu geflügelten Worten wurden. Egal, ob es sich um ein störrisches "Ich möchte Teil einer Jugendbewegung sein" oder um ein existenzialistisches "Wie wir leben wollen" handelt. Jüngster Neuzugang im popkulturell zementierten Motto-Fundus: "Sag alles ab", ursprünglich ein zorniger Rocker aus dem Album "Kapitulation" – jetzt Sinnbild für die weitgehende Unmöglichkeit von Live-Musik im Covid-19-Jahr und Titel dieser Werkschau. Im Angebot: geraffte Hit-Kopplung in chronologischer Reihenfolge, dickes Earbook mit stolzen 70 Tracks inklusive Raritäten-Sammelsurium – abweichend kombiniert auf Vinyl, CD und digital. Ob Letzteres immer noch besser ist?
In unsicheren Zeiten geht es jedenfalls kaum besser als bei "Hoffnung", dem Stück zum Lockdown, das Blumfelds "Neuer Morgen" genauso im präzisen Akustik-Fingerpicking wie im textlichen Optimismus beleiht. Der Ruhepol am Ende einer wilden, nahezu immer hochklassigen (Höllen-)Fahrt durch zwölf Alben und mehrere Aggregatzustände – von leidlich diszipliniertem Lärm über unscharfen Post-Grunge und Spacerock-Krautwickel bis hin zum unantastbaren Gitarren-Pop mit Meta-Ebene. Tocotronic operieren ihre Lovesongs am offenen Herzen, holen Protest-Punk aus der Verweigerungsanstalt ab und befördern selbst verspielte Popowackler wie "Zucker" zum gehobenen Superkäse. Und wer beim "Wir sind Babys"-Refrain und den "Just like Heaven"-Keyboards von "Die Erwachsenen" keine Bauklötze staunt, ist nie im Dunkeln auf einen Lego-Stein getreten.
Doch trotz der Wandlung der Band zu Elder Statesmen, die längst lieber mit Paddy MacAloon von Prefab Sprout Hallimasch-Parmesan-Tagliatelle essen würden als Pizza mit Mark E. Smith, bleibt "Die Welt kann mich nicht mehr verstehen" das beste The-Thermals-Stück auf Deutsch, bevor sich The Thermals überhaupt gründeten. Das bis aufs Letzte zugespitzte Wir vs. Ihr verdanken die Songs vor allem Dirk von Lowtzows sorgfältig übereinandergeschichteten Zeilen – mal als schwerzüngige Ode an die Liebe im brillant verrauschten "Jackpot", mal als bassiger Pessimismus-Bolzen wie "Aber hier leben, nein danke", in dem Volker Lechtenbrink mit Can kumpelt. Und auch, dass das gekippte Brüten des kunstvoll verschränkten "Hi Freaks" jederzeit auf vergnügliche Sinnlosigkeiten wie "Macht es nicht selbst" prallen kann, macht aus Tocotronics Schaffen ein Universum.
Dumm, dass in der 36-Track-Version die eine oder andere Großtat wie das kokelnde Sonic-Youth-Surrogat "Das Unglück muss zurückgeschlagen werden" oder der ätherische Dandy-Pop von "Ich öffne mich" hinten runterfällt. Für die 4-CD-Ausgabe sprechen außerdem aufschlussreiche Demos: So war "Höllenfahrt am Nachmittag" ursprünglich eine Art "Rock lobster" mit Flummi im Bauch und "Neutrum" ein kolossal minimalistisches Young-Marble-Giants-Klöpferchen. Live-Gastauftritte von Joy Denalane und Feine Sahne Fischfilets Monchi Fromm? Müssen auch mit rein – und wer von Lowtzows "Refugees welcome – Gegen jeden Rassismus"-Beitrag "Fuck you Frontex" kennt, der weiß, dass vor allem bei Letzterem einwandfreie Gesinnung vor Namedropping geht. Wie war das noch? Ärgerlichste Band Deutschlands? Was kümmert mich mein Geschwätz von vorgestern.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Die Welt kann mich nicht mehr verstehen
- Das Unglück muss zurückgeschlagen werden
- Jackpot
- Hi Freaks
- Aber hier leben, nein danke
- Macht es nicht selbst
- Ich öffne mich
- Electric guitar
- Neutrum (Demo 2012)
Tracklist
- CD 1
- Drüben auf dem Hügel
- Meine Freundin und ihr Freund
- Wir sind hier nicht in Seattle, Dirk
- Freiburg
- Hamburg rockt
- Du bist ganz schön bedient
- Ich muss reden, auch wenn ich schweigen muss
- Die Welt kann mich nicht mehr verstehen
- Bitte gebt mir meinen Verstand zurück
- Ich verabscheue Euch wegen Eurer Kleinkunst zutiefst
- So jung kommen wir nicht mehr zusammen
- Gehen die Leute
- Sie wollen uns erzählen
- Dieses Jahr
- Nach Bahrenfeld im Bus
- Das Unglück muss zurückgeschlagen werden
- Let there be rock
- Die Grenzen des guten Geschmacks 2
- Jackpot
- Morgen wird wie heute sein
- This boy is Tocotronic
- Hi Freaks
- CD 2
- Free hospital
- Neues vom Trickser
- Aber hier leben, nein danke
- Gegen den Strich
- Ich habe Stimmen gehört
- Pure Vernunft darf niemals siegen
- Mein Ruin
- Imitationen
- Kapitulation
- Sag alles ab
- Explosion
- Eure Liebe tötet mich
- Macht es nicht selbst
- Die Folter endet nie
- Im Zweifel für den Zweifel
- CD 3
- Wie wir leben wollen
- Auf dem Pfad der Dämmerung
- Ich will für Dich nüchtern bleiben
- Warte auf mich auf dem Grund des Swimmingpools
- Prolog
- Ich öffne mich
- Die Erwachsenen
- Rebel boy
- Zucker
- Spiralen
- Die Unendlichkeit
- Electric guitar
- Hey Du
- Bis uns das Licht vertreibt
- Hoffnung
- CD 4
- Jungfernfahrt (live B-Sides Festival Schweiz 2015)
- Stürmt das Schloss (live Radio Sputnik Halle 2010)
- Aufruhr (Demo 2016)
- Drüben auf dem Hügel (live FM4 Radio Session Wien 2007)
- Total Folk (live Fama Kino Hamburg 1994)
- Ich bin drei Schritte vom Abgrund entfernt (live Village Radio Amsterdam 1995)
- Macht es nicht selbst (Demo 2008)
- Höllenfahrt am Nachmittag (Demo 2012)
- Neutrum (Demo 2012)
- Prolog (instrumental 2015)
- Unendlicher Hass (Demo 2011)
- Dein geheimer Name (Demo 2006)
- Keine Meisterwerke mehr (live Arena Wien 2010)
- Zwischen den Mauern (Demo 2016)
- Ich möchte irgendetwas für Dich sein (live Roskilde Festival 1997)
- Aber hier leben, nein danke (feat. Monchi Fromm)(live Planetarium Berlin 2018)
- Kapitulation (feat. Joy Denalane) (live Planetarium Berlin 2018)
- 17 (live FM4 Frequency Festival St. Pölten 2012)
Im Forum kommentieren
Mr. Fritte
2020-11-30 01:32:03
Für mich sticht vor allem "Ich will für dich nüchtern bleiben" in der Hinsicht raus, weil das Album so viele tolle Songs hat und ich dann echt nicht ausgerechnet diesen eher unspektakulären Song gewählt hätte. Cool ist aber auf jeden Fall, dass sie ganz offensichtlich die Abstimmung hier verfolgt und folgerichtig den Siegersong "Explosion" mit draufgepackt haben. ;)
kingsuede
2020-11-29 16:35:55
Ich finde da nur wenig Mittelmaß; beim Frühwerk gut rausgekürzt, beim Spätwerk gut ausgewählt. Es hätten noch einige B-Seiten sein dürfen.
AVMsterdam
2020-11-29 13:25:40
Finde die Auswahl eher mäßig. Ein paar Favoriten fehlen, aber noch wesentlich schwerer wiegt, dass da auch viel Mittelmaß als Ballast dabei ist. Höre da lieber meine eigene Playlist.
noel_liam
2020-09-21 17:32:16
Wie bewertet ihr das Preis-Leistungs-Verhältnis?
Im Vergleich zu den "Chroniken" (384 Seiten) für 20 EUR bin ich von der 4CD Version (54 Seiten) für 45 EUR schon enttäuscht.
hidden
2020-09-03 13:46:33
@qwertz: danke! stimmt, vom anfang wurde wirklich so einiges gestrichen, was ich aber vertretbar finde. etwas überraschender ist, dass "explosion" und "eure liebe..." nicht dabei sind.
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