Sophie Hunger - Halluzinationen

Caroline / Universal
VÖ: 04.09.2020
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 9/10
9/10

Aufwachen!

Eigentlich zeichnet sich die Arbeit in einem Studio dadurch aus, dass dort die Songs auseinandergenommen werden. Einzelne Passagen werden immer wieder eingespielt, an minimalen Details wird bis zur Erschöpfung gefeilt. Wenn man jedoch ein gewisses Live-Feeling erzeugen will, wird schon mal ein ganzer Song komplett aufgenommen, in voller Besetzung. Das ist der in Berlin ansässigen Schweizerin Sophie Hunger nicht genug. Sie enterte mit dem Material, aus dem sich ihr siebtes Studioalbum "Halluzinationen" zusammensetzt, die Abbey Road Studios und spielte dort alle Songs am Stück sechsmal durch. Daraus wurde mit Produzent Dan Carey das fertige Produkt. Und so wirkt "Halluzinationen" geschlossen, obwohl es aus heterogenen Stücken besteht, besitzt einen Überbau, obwohl die Songs von Piano-Ballade bis zu shizo-affektivem Pop reichen. Wenn man jene Klammer benennen will, ist es vielleicht das übergeordnete Gefühl der Irritation im Harmonischen. Denn Hunger hat vielleicht die verführerischsten Melodien ihrer Karriere entworfen, ein latentes Unwohlsein bleibt aber immer bestehen.

Die Hinwendung zu elektronischen Komponenten auf dem Vorgänger "Molecules"" wird nicht zurückgenommen, doch steht sie in reizvollem Dialog mit organischen Klängen. Der Opener "Liquid air", eine Ballade der Vergeblichkeit, mäandriert auf sanften Sohlen dahin, mündet aber in eine derart raffinierte melodische Auflösung, dass beim Hörer trotz ruhiger Gangart tiefgreifende Melancholie aufkommt, eine Verzweiflung in der resignativen Ruhe verpasster Möglichkeiten. "Finde mich" suggeriert eine träge Wohligkeit, räkelt sich, lockt an – die Auflösung der Person bis zur Selbstverleugnung. Doch in solchen Annäherungen liegt Gefahr, Verschwinden der Identität, der Autonomie. Und trotzdem drängt Hunger: "Bitte fass mich an." Der Verlust der Deutungshoheit über die eigene Person, das Abrutschen in mentale Verzerrungen kommt im wunderbar verdrehten Pop des Titelstücks zum Tragen. Die Beats verschachtelt, gleichzeitig aggressiv und rückzugsbereit, bilden die Unterlage für den gepressten Gesang Hungers in der Strophe. Doch im Refrain umgarnt die Berlinerin in milder Zärtlichkeit ihre süßen Dämonen.

Es ist also gerade mal ein Drittel des Albums gelaufen und man wurde bereits in ganz unterschiedliche Zustände versetzt. Da ist der Balanceakt zwischen Panik und Euphorie, das Verlieren im anderen bei gleichzeigem Verlust jeglicher Kontrolle und eben auch die Passivität derer, die den entscheidenen Moment schon hinter sich haben. "Bad medication" kultiviert eine taube Traurigkeit inmitten lebendig sprudelnder Klaviertöne, der Gesang Hungers dabei immer eine Idee neben der vollkommenen Hochglanz-Performance. Ein brutal aufreibendes Stück ist "Alpha venom", obwohl Schlagzeug und Klavier im unterkühlten Einklang marschieren und Hungers Stimme die taktilen Eigenheiten einer nassen Betonwand aufweist. Man meint, Hunger hauche den kühlen Appell "Aufwach, aufwach, aufwachen" dem Hörer entgegen, dabei besingt sie in Wahrheit auf Englisch jenes zersetzende Kerngift. Dass dann in einen solch strikten Songs durch Erhebung des Gesangs in höhere Tonlagen auch noch die Verzweiflung Einzug hält, ist eines der vielen Wunder dieses Albums.

Ein weiteres ist die fatalistische Ballade "Rote Beeten aus Arsen", die Hunger mit reduzierter Klavierbegleitung in die Welt der Trümmerfrauen eintauchen lässt, ein einfaches Schlaflied mit lieblicher Melodik, welches jedoch wie eine Ohrfeige wirkt. Nach so viel Schwermut schickt Hunger als größtmöglichen Kontrast die billigen Holiday-Synthies von "Everything is good" hinterher. Doch schwingt auch hier der Abgrund im Flitterwunderland mit. Im schleppenden "Maria Magdalena" tritt jener wieder ganz offen zu Tage, obwohl in dem verträumt-tänzelnden Gesang viel Sanftmut zur Geltung kommt. Doch das letzte Drittel ist eindeutig der Melancholie gewidmet, trotz der lebendigen Percussion in "Security check" und der Leitaussage "It's too soon to cry." Dass sich der Abschluss "Stranger" mit fast gesprochenem Gesang nach diesem Kaleidoskop der Gefühle matt hinlegen will, passt gut ins Bild. Denn als Hunger ihr neues Baby in den Abbey Road Studios immer wieder durchgespielt hat, muss das emotional unheimlich aufwühlend gewesen sein, gemessen daran, welchen gewaltigen Impact "Halluzinationen" auf den Hörer hat.

(Martin Makolies)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Liquid air
  • Halluzinationen
  • Alpha venom
  • Security check

Tracklist

  1. Liquid air
  2. Finde mich
  3. Halluzinationen
  4. Bad medication
  5. Alpha venom
  6. Rote Beeten aus Arsen
  7. Everything is good
  8. Maria Magdalena
  9. Security check
  10. Stranger
Gesamtspielzeit: 36:15 min

Im Forum kommentieren

Arne L.

2024-09-13 14:46:50

Höre gerade mal wieder und hab absolut nichts auszusetzen. 9/10

Cade Redman

2020-12-17 22:37:50

https://youtu.be/0mWO3jyTC1o

Cade Redman

2020-12-17 22:35:34

Toller elektronischer Sound beim Titeltrack. Aktuelles Lieblingslied: "Bad Medication". Hier ein Live- Video. Sophie ist einfach brilliant.

Takenot.tk

2020-09-21 14:12:42

Wirklich tolles Album bisher, die Songs wachsen mehr und mehr.
Einzige bei Maria Magdalena bin ich noch nicht so sehr drin, der hat aber auch wie viele Songs ganz großartiges Klavierspiel.
Stranger hat mich musikalisch noch nicht ganz erreicht, textlich aber toll.

Finde es auch klasse wie sie bei Halluzinationen gefühlt den Grönemeyer der 80er raushängen lässt.

Vive

2020-09-10 15:23:04

Insgesamt hat mich die anxiety ihrer frühen Werke am meisten angesprochen. Ist halt Geschmacksache. Dass sie eine geniale Musikerin ist, steht außer Frage.
Sie sagte in einem Interview, ich glaube es ging um Konzerte, dass sie früher ein Reh im Scheinwerferlicht war, und jetzt ein Wolf ist. Freut mich für sie.

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