Nicolas Jaar - Telas

Other People / Rough Trade
VÖ: 17.07.2020
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Geschichte aus vier Blickwinkeln

Nicht, dass wir uns wirklich beschweren wollten, aber die Frage muss schon gestattet sein: Wäre es möglich, dass Nicolas Jaar eventuell zu kreativ ist? Nach seinem Against-All-Logic-Output "2017-2019" vom Februar 2020 und dem nur einen Monat später erschienenen "Cenizas" steht mit "Telas" nun immerhin schon die dritte Veröffentlichung des New Yorkers innerhalb eines halben Jahres in den Startlöchern. Selbst die vorläufige Irritation hinsichtlich der gerade mal vier Songs umfassenden Tracklist ist schnell beiseite geschoben – auch das dritte 2020er-Werk ist mit einer Spielzeit von knapp einer Stunde ein vollwertiges Album. Gut, klar – Jaar hatte wie so viele andere im Frühjahr wahrscheinlich ansonsten nicht viel zu tun. Zwar mutet "Telas" derweil als Isolationskunst der etwas anderen Art an, entstand aber tatsächlich bereits vor der weltweiten Coronavirus-Pandemie.

Stichwort "Kunst" – passender dürfte kaum ein Oberbegriff sein, selbst wenn man von dem eigentlichen Album noch keine Note gehört und bisher nur von dessen Hintergrund gelesen hat. Denn "Telas" ist mehr als nur eine musikalische Erscheinung: Zum Werk gehören noch eine visuelle Installation des Künstlers Somnath Bhatt sowie der Internetauftritt telas.parts. Hier werden durch drei verschiedene Herangehensweisen also Augen und Ohren gleichzeitig stimuliert. Aber wirklich nur drei? Nimmt man den Zuhörer selbst noch ins Boot, der als Empfänger beziehungsweise Teilnehmer dieser Reise ja durchaus auch eine eigene Rolle spielt, wirkt "Telas" mit vier Songs tatsächlich aus vier verschiedenen Blickwinkeln. Gar nicht verkehrt ist das, denn wie es nun mal eben immer so ist mit der lieben Kunst – ihr Einfluss auf den Einzelnen wirkt nicht immer gleich.

So lässt sich mit fast sicherer Wahrscheinlichkeit sagen, dass selbst eingefleischte Jaar-Anhänger mit "Telas" ein wenig Arbeit haben werden. Bis auf ein kurzes, sich wiederholendes Flüstern hier und da kommt es ohne Texte aus. Oft umkreisen und -spielen sich lediglich kurze Klangbausteine und Melodiefragmente über mehrere Minuten, ohne einen wirklichen Song zu formen. Auf die Schönheit dieses Albums, wenn man davon überhaupt in einem klassischen Sinne sprechen kann, muss man sich einlassen, sonst dürfte man relativ schnell enttäuscht werden. "Telas" ist keine Musik für nebenher, während man sich mit gänzlich anderen Dingen beschäftigt, es will konsumiert werden. Lässt man das nicht zu oder erwartet man, dass die vier Stücke – alle zwischen 13 und etwas über 16 Minuten lang – schon von alleine einfach so gefallen werden, verliert man hier schon von Anfang an.

Öffnet man sich diesem kleinen künstlerischen Projekt, wird man zunächst sicher staunen, wie minimalistisch und gleichzeitig detailliert "Telas" aufgebaut ist. Kein Ton passiert hier ohne Grund oder zufällig, jede einzelne Note hat ihren Platz und ihre Daseinsberechtigung. Ähnlich wie schon Max Richters gigantisches Wiegenlied-Experiment "Sleep" kommt es hier so vor, als seien die vier Stücke in all ihrer Pracht aufeinander abgestimmt, stets dazu da, um gemeinsam in geballter Kraft ihre Wirkung zu entfalten. Vier gewinnt also – von vier Jahreszeiten kann man hier allerdings kaum sprechen, denn "Telas" überzeugt vor allem durch seine kühle Ästhetik. Und trotzdem merkt man am Ende dieser fast einstündigen Reise durch abstrakte Klangkulissen, wie warm es in der Magengegend wurde. Wie gut also, dass Nicolas Jaar immer wieder Ventile für seine übersprudelnde Kreativität findet. Und noch besser, dass wir das Ergebnis in langsam zurückkommender Freiheit genießen können.

(Jennifer Depner)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Telencima

Tracklist

  1. Telahora
  2. Telencima
  3. Telahumo
  4. Telallás
Gesamtspielzeit: 58:41 min

Im Forum kommentieren

poser

2020-07-20 23:43:20

Vielleicht mein Lieblingsalbum von Jaar seit seinem Debütalbum (Sirens ist toll, aber hat neben seinen besten Songs auch ein paar schwache Songs).

Wunderbare Texturen und insgesamt klingt das als hätten Alice Coltrane und Sun Ra Pink Floyds Another Brick in the Wall gecovert und dann Karlheinz Stockhausen zum Remixen gegeben.

kingbritt

2020-07-18 13:22:50


Ich habe heute morgen nochmals die Sirens gehört. Stolzes Programm, kleiner Genre-Meilenstein.

Klaus

2020-07-18 12:23:03

" Kann was. Das, was Klaus beschreibt, ist wohl genau mein Ding... "

Mich kriegt Jaar vor allem mit seinen Against All Logic Sachen und "Sirens". Cenizas hatte seine guten Stellen, aber hier ist halt subjektiv nix - aber schön, wenn sich andere für begeistern können :)

mIsland

2020-07-18 11:48:45

Kann was. Das, was Klaus beschreibt, ist wohl genau mein Ding...

maxlivno

2020-07-18 11:17:01

Gerne :) Jaar hat in den Streams in denen er immer mal eines der vier Lieder gespielt hat, ein bisschen aus dem Nähkästchen geplaudert

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