Albrecht Schrader - Diese eine Stelle
KrokantVÖ: 26.06.2020
Eine gute Nachricht
“Der Ort, wo meine Jugend glüht, ist nicht, wo Hamburg brennt / Tränen fließen unverblümt in mein Polohemd“, singt Albrecht Schrader in der Lead-Single "Auf dem Golfplatz" seines neuen Albums und geht damit genauso schnell in medias res wie diese Rezension hier. "Diese eine Stelle" dreht sich vor allem darum, nicht reinzupassen – und zwar ein bisschen anders, als man es von diesen abertausenden Coming-of-Age-Platten kennt, die bisher schon erschienen sind.
Freilich, wer so aufwächst, wie der Wahlkölner es in der Single beschreibt, hat andere Geschichten zu erzählen als die, die man schon alle kennt. So schildert der Singer-Songwriter am Piano lapidar und dennoch lebendig etwa jenen Stich, den ein Einwohner Blankeneses verspürt, wenn er ein Graffito an der "Elbchaussee" entdeckt. Ein paar flirrende Streicher bewegen das Messer tief ins Herz. Auch "Wir sind die Eliten" findet sein Identifikationspotenzial an derlei Orten. "Wir schlafen nicht gut / Es ist genauso wie bei Euch", heißt es da aus Sicht eines Oberschichtenbürgers, der sich gegenüber dem "Prekariat" zu rechtfertigen versucht. Ein "Sozialismus der Gefühle" wäre doch was Nettes, aber: "Wir fühlen mit Euch, doch wir woll'n nicht bei Euch wohn'." Zur Mitte des Songs folgt der Sichtwechsel, Schrader spricht nun in der Ich-Form und zeigt sich angewidert, er will nicht länger zu diesen sogenannten Eliten gehören. Eine Katharsis zu flottem Drumcomputer-Beat, am Ende untermauert von freudigen Bläsern.
"Mein Privileg / Steht mir im Weg", fasst Schrader sein Schicksal im hippeligen "Was denkst Du über mich" zusammen. Das Paradox, nicht dazuzugehören, weil man aus gutem Hause stammt – fraglich, ob es jemals ein Album mit diesem Thema gab. Seine Berechtigung hat es natürlich, denn Vorurteile gibt es aus allen Richtungen, und in Ordnung sind sie nie. Aber ist es wirklich okay, zu jammern, weil es einem zu gut geht? Definitiv nicht. Aber Schrader jammert auch nicht. Er ist stocknüchtern, erzählt ohne Augenzwinkern, versteckt sich nicht und erteilt seinen Worten dadurch die Legitimation, ganz gleich, ob er von seiner Sorge berichtet, als Großbürgersohn im Jugendzentrum aufzutreten oder im langsam tänzelnden "Zäune" von der ersten großen Liebe singt.
"Diese eine Stelle" bildet einen Status Quo ab, der vor allem aus der Retrospektive lebt, es schildert, was bisher war. Ihm bleibt ja auch gar nichts anderes übrig, selbst wenn Schrader eigentlich lieber nach vorne blicken möchte. Im Closer "Die Zukunft liegt verborgen" erkennt der Sänger, dass das Zukünftige ihn deshalb in seinen Bann zu ziehen scheint, "weil ich mich an das Morgen noch nicht erinnern kann." Schöner kann man so etwas wohl kaum ausdrücken, die Platte findet hier ihren lyrischen Höhepunkt. Egal, wo man auch herkommt, die Zukunft ist noch nicht geschrieben, man darf hoffen. Das ist die Nachricht am Ende dieses nicht immer ganz einfachen Albums. Und es ist eine gute Nachricht.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Elbchaussee
- Wir sind die Eliten
- Was denkst Du über mich
Tracklist
- Diese eine Stelle
- Auf dem Golfplatz
- Elbchaussee
- Wir sind die Eliten
- Was denkst Du über mich
- Schwarzer Käfer
- Eigelstein
- Zäune
- Getrennt oder zusammen
- Die Zukunft liegt verborgen
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Armin
2020-06-17 20:13:36- Newsbeitrag
Frisch rezensiert.
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