Mrs. Piss - Self-surgery

Sargent House
VÖ: 29.05.2020
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Die Strahlen kreuzen

Kotze, Scheiße, Pisse. So gerne wir in unschöneren Alltagsmomenten mit metaphorischen Fäkalien um uns schmeißen, so tabuisiert und abnormal erscheinen uns immer noch die tatsächlichen. Die Reaktionen auf die beeindruckend kompromisslose Ekel-Ästhetik von Mrs. Piss' Debüt werden sich dementsprechend nicht über den Bereich zwischen Irritation und Würgereiz hinausbewegen – dass die freizügige Cover-Dame auch den Albumtitel "Self-surgery" verkörpert, tut sein Übriges. "Warum soll ich mir das überhaupt anhören?", wird sich manch verstörtes Menschlein sicher fragen. Nun, vielleicht sind die Personen am anderen Ende der Harnröhre schon Anreiz genug. Noch bevor Chelsea Wolfe, die unumstrittene Gothic-Göttin der 2010er, ihre überirdische Aura erlangte, versuchte sie sich mit ihrer Freundin Jess Gowrie im Grunge-Trio Red Host. Das endete zwar im Krach statt im Erfolg, doch auf "Hiss spun" fanden die zwei zum Glück wieder zusammen. Obwohl Gowrie für die metallene Härte jener Platte mitverantwortlich war und sie seitdem fest in Wolfes Band trommelt, schlummerte noch ein ungenutztes kreatives Feuer im Inneren der beiden Frauen. Etwas, das noch weitaus aggressiver, roher, brutaler als jedes ihrer bisherigen Werke war und sich nun seinen eigenen Weg an die Oberfläche gebrannt hat: Mrs. Piss.

"I'm bathing in the filth of the world", keucht, schluchzt, flüstert Wolfe im Intro "To crawl inside" inmitten einer Kakerlakengrube von Störgeräuschen. "Mission Statement" wäre noch untertrieben – "Self-surgery" schlägt ein wie eine Bombe im Abwasserkanal. Nur acht Songs in 18 Minuten braucht dieser Bastard aus Noise-Punk, Sludge und Doom-Metal, um sich in mehr Dreck zu suhlen, als Dieter Bohlen je produzieren könnte. Im Grunde reichen dafür schon die 121 Sekunden des urgewaltigen "Downer surrounded by uppers". Wolfes Stimme kann weiterhin Geister beschwören, mit denen nicht einmal Venkman und Stantz klarkommen, doch bleibt sie hier stets im Schlamm mit ihren Instrumenten, statt in den Äther davonzuschweben – ihr Schrei am Ende besagten Tracks erschüttert wie ein Erdbeben. Das folgende "Knelt" schraubt das immens hohe Tempo zu schleppenden Sumpfwogen herunter, schürft aber genauso tief und intensiv. Aus den aufgerissenen Abgründen erklingen im Anschluss ein paar Industrial-Synthies, dann berserkert Gowrie plötzlich um ihr Leben, nur um einer unterirdischen New-Wave-Disco den Weg zu bereiten. "Nobody wants to party with us"? Seid Ihr sicher?

Auch "M.B.O.T.W.O." gerät in all seiner Wucht erstaunlich tanzbar. Wer nach dem düster-folkigen "Birth of violence" vergessen hat, dass Wolfe auch tonnenschwere Riffs aus ihren Saiten schaben kann, sollte diesen Einminüter als Erinnerungshilfe nutzen. Ihre Kollegin verdient sich indes auch am Bass ihre Sporen, wenn sie "You took everything" mit einem donnernden Unterton versieht. Um die Faszination hinter "Self-surgery" vollends zu erfassen, darf man das Album nicht missverstehen. Mrs. Piss wollen gar nicht den Hörer als Sparringspartner besudeln, sondern ihm ein Ventil für seinen eigenen angestauten Hass ermöglichen – empathische Misanthropie, wenn man so will. Deshalb begeistert der Titeltrack mit seinem Mix aus Shouts und hypnotischer Gesangsmelodie so sehr, deshalb will man bei der abschließenden Band-Hymne nur noch die Fenster aufreißen und einmal kräftig rausspucken. Kritik, dass die Platte ihre Ideen meistens hinrotzt, statt sie auszuformulieren, würde am Kern vorbeigehen. Es geht keineswegs um musikalische Komplexität, nur um zwei Frauen, die sich über den Mist der Gesellschaft auskotzen und alle zum Mitmachen einladen. Letzteres ist auch wörtlich zu verstehen: Wolfe und Gowrie kündigten bereits an, dass ihr Projekt kein Duo bleiben, sondern um weitere ebenso angepisste Künstlerinnen wachsen soll. Der Unrat dieser Welt wird sein erneutes Aufwühlen durch noch mehr schmutzige Hände kaum abwarten können.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Downer surrounded by uppers
  • Knelt
  • Self-surgery

Tracklist

  1. To crawl inside
  2. Downer surrounded by uppers
  3. Knelt
  4. Nobody wants to party with us
  5. M.B.O.T.W.O.
  6. You took everything
  7. Self-surgery
  8. Mrs. Piss
Gesamtspielzeit: 18:46 min

Im Forum kommentieren

mIsland

2020-06-19 20:41:27

@Schwarznick: Nicht in dieser Intensität, aber ganz wohl ist mir beim Vorbeigehen auch nicht ;)

sizeofanocean

2020-06-19 10:11:21

Bandname und Cover sind so unfassbar dämlich und hässlich.

Schwarznick

2020-06-19 10:02:46

@mIsland

findste manneken piss dann auch abstoßend? ;)

Schwarznick

2020-06-19 10:00:32

der feine herr .... :D

ich finds bombenstark. anfangs dachte ich, wat, nur 18 minuten? passt aber haargenau!

mIsland

2020-06-19 09:48:03

Ich muss zugeben: Obwohl ich die Musik von Chelsea Wolfe liebe, werde ich hier nicht reinhören. Dafür finde ich den Namen zu abstoßend. Klingt merkwürdig, ist aber leider so.

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