Friends Of Gas - Kein Wetter

Staatsakt / Bertus
VÖ: 05.06.2020
Unsere Bewertung: 9/10
9/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Auf Kapitalfahrt

Merke: "Fußball ist ding, dang, dong. Es gibt nicht nur ding", wie Giovanni Trapattoni es einst gewohnt verpeilt ausdrückte. 2019 hätten Friends Of Gas, passenderweise aus München, "Musik ist deng, deng, deng" dagegenhalten können. Und zwar anlässlich des Titeltracks ihrer EP "Carrara", der ausschließlich aus einem einzigen, zehn Minuten lang wiederholten Akkord bestand. Eine Meditation über die Auflösung gängiger Songformate? Oder laut Plattentests.de-Forum dreiste künstlerische Prätention respektive kunstvolle Verarschung? Jedenfalls sollte sich unter diesen Umständen niemand beklagen, wenn das Quintett sein zweites Album "Kein Wetter" mit einem ebenfalls zehnminütigen Stück beschließt – immerhin folgt "Selber keine" einer erkennbaren, wiewohl reichlich verqueren Rock-Struktur. Und verhandelt doch störrische Totalverweigerung. Was für ein Finale.

Genau richtig angesichts der neun Stücke zuvor, die eine noch etwas plattwalzendere Qualität besitzen als das maximal irreführend betitelte Debüt "Fatal schwach". Sobald Nina Walser ruinös die Stimme erhebt und ihre Band in einen Taumel aus roh gezimmerten Gitarren und malmender Rhythmusgruppe verfällt, wird klar: Hier hat der Begriff Noise-Rock noch einen guten, rostigen Klang. Schon der Opener "Waldbrand" wird unversehens zum Weltenbrand und detoniert im Zeitraffer, während "Schrumpfen" mit skelettiertem Swamp-Blues die Auslöschung des Selbst als Kollateralschaden einer destruktiven Marktwirtschaft verbucht und obendrein mit Karl Marx mauschelt: "Und irgendjemand flüstert leise / Kapital oder kapitulieren." Sich selbst kann Walser damit nicht meinen: Ihr barmendes Röcheln und Schnauben macht jederzeit den Lauten.

Denn der Mensch bleibt auch hier ein unbeschriebenes Blatt, und die Zeile "Die Munition vermodert unter unseren Haaren" beklagt die Scharen geistig Unbewaffneter, gegen die soziale Kälte leichtes Spiel hat. Wie wütend das machen kann, demonstriert der Punkrocker "Blaiberg", ab dem diesem Album alle Sicherungen durchbrennen. Zwischen Funk und Math-Achtelei eskalierendes Monster-Riff und krautiger Upbeat reichen "Graue Luft" für einen präzisen Power-Groover, "Abwasser" swingt dank schrill zerspringender Post-Punk-Leads und schabender Grundierung wie die Hölle – nicht nur in puncto Geschwindigkeit ein Quantensprung gegenüber dem bereits exquisiten Erstling, sondern auch: zwei Hits aus einer brackigen Kloake, in der jede Menge Sonic-Youth-Platten schwimmen. So tight und vor allem so gut waren Friends Of Gas' seelische Talfahrten noch nie.

Da geht es erst wild gegen den Strich gebürstet mit einem Mähdrescher auf Speed durch die "Felder", ehe "Stechpalmenwald" zu monolithischem Bass-Grollen schleppend die Trümmer einer Liebe aufklaubt, die an den Betonwänden der Traumfabrik zerschellt ist – dreimal dürfen Sie raten, wie der Songtitel ins Englische übersetzt lautet. Friends Of Gas haben neben der kruden Wucht der frühen Mutter, manischen Vocal-Ad-Libs im Refused-Stil oder dem klobigen, als Metal missverstandenen Saitenwerk von Eisenvater nämlich auch einen schroffen Humor im Gepäck. Nur ein einziges Mal liegt "Kein Wetter" trotz saftigem Punch, barschen Songbrachen und brachialem Pop-Appeal falsch: mit dem Satz "Alles ist von schlechter Qualität." Was aber natürlich ganz anders gemeint ist. Vergessen wir's also. Vergessen wir am besten gleich alles. Außer dieses sensationelle Album.

(Thomas Pilgrim)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Schrumpfen
  • Graue Luft
  • Stechpalmenwald
  • Abwasser

Tracklist

  1. Waldbrand
  2. Schrumpfen
  3. Blaiberg
  4. Graue Luft
  5. Felder
  6. Stechpalmenwald
  7. Abwasser
  8. Teilchen
  9. Im Bad
  10. Selber keine
Gesamtspielzeit: 51:14 min

Im Forum kommentieren

noise

2020-11-13 20:52:31

Ganz der Meinung meiner beiden Vorredner.

myx

2020-11-11 08:27:08

Das Album ist eine Wucht, die 9/10 geht auch für mich absolut klar.

Eurodance Commando

2020-11-11 03:10:14

Muss auch nochmal ne Lanze für diese grandiose Band brechen. Das zweite Album ist über jeden Zweifel erhaben, die 9 geht absolut klar. Eins der großen Highlights dieses Jahr, was auch meine Erwartungen voll erfüllen konnte.

Das Gelaber hier in dem Thread, u.a. über den Bandnamen, absolut lächerlich und peinlich.

Voyage 34

2020-08-23 10:00:56

Habs auch trotz Vocals noch mal versucht und muss sagen, dass die Platte gewissermaßen gezündet hat. Ich kann das nicht dauernd hören, ist mir oft echt zu anstrengend und ich hab auch so meine bekannten Probleme mit Deutsch als "Gesangs-"Sprache, aber manchmal kommt die Platte echt richtig stark, die hohe Wertung kann ich schon auch nachvollziehen.

AndreasM

2020-08-23 09:04:41

Nach Live-Eindruck letztes Wochenende habe ich das Album gestern auch mal intensiv gehört. Ich stimme allen zu, die hier eine sehr starke Einheit von Gesang und Musik hören, alles sehr geschlossen. Passte irgendwie zum Live-Bild, in dem die Sängerin verdeckt in der Ecke der Bühne stand und sich der Rest der Band quasi als Wagenburg als Wall davor aufstellte (war aber bei früheren Konzerten wohl anders).

Ich kann die hohe Wertung daher gut nachvollziehen, auch wenn ich mich für höhere Weihen ebenfalls ab und an an den Texten störe. Ich finde dabei allerdings das starke Wiederholen einzelner Wörter oder Fragmente als sehr stimmig zum Rest. Gerade das hier schon beschriebene "Selber keine" oder das Wiederholen des Wortes "Schwindel" haben einen starken Effekt. Die Texte sind aus meiner Sicht gerade dann gelungen, wenn das Wiederholen von klangvollen Wörtern auch inhaltlich zum Album passt (wie eben in diesen Fällen). Ich störe mich eher an den Versuchen, wo es so etwas wie konkreter wird (oder werden soll): An Beispielen wie "Kapital oder kapitulieren?", "Der Magnetismus ist meine Religion" oder auch "Unsere Liebe ist nur ein in Hollywood gezüchtetes Monster" bleibe ich beim Hören hängen und sind für mich irgendwie Schwachstellen des Albums.

Aber in jedem Fall eines meiner Favoriten-Alben bisher in diesem Jahr. Den Vorgänger sollte ich dann wohl auch mal hören.

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