Austra - HiRUDiN

Domino / GoodToGo
VÖ: 01.05.2020
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

The blood is love

Heute mal Biologie: "Hirudin ist ein Gemisch chemisch sehr ähnlicher Polypeptide aus dem Speichel des medizinischen Blutegels mit blutgerinnungshemmenden Eigenschaften", schreibt Wikipedia. Nachdem sich Katie Stelmanis zuletzt Gedanken über unsere "Future politics" gemacht hat, ist sie jetzt also unter die Ringelwurmforscherinnen gegangen. Doch natürlich meint die besser unter ihrem zweiten Vornamen Austra bekannte Kanadierin den Titel ihres vierten Albums metaphorisch. Der Egel steht in diesem Fall für – wie fies – die Ex-Freundin, deren Part in der gemeinsamen Beziehung Stelmanis als toxisch bezeichnet. Und weil derartiges emotionales Blutsaugen nicht nur Leid, sondern auch eine Stärkung der eigenen Persönlichkeit mit sich führen kann, erschien ihr das heilsame Protein als passender Namensgeber. Natürlich verlangen die positiven Nebenwirkungen auch Opfer und so zog die 34-Jährige einen radikalen Cut, der neben ihrem Privatleben auch die bisherigen Bandmitglieder um Maya Postepski betraf.

"HiRUDiN" ist also nicht nur ein persönlicher Befreiungsschlag, sondern auch ein künstlerischer. Auf der Suche nach frischen Impulsen lud sich Stelmanis eine Menge neuer Leute ins Studio, die sich in eher abseitigen musikalischen Nebenstraßen bewegen: das experimentelle Klassik-Kollektiv c_RL, das Streich-Duo Kamancello und die philippinische Gong-Punk-Band Pantoya. Ehrlicherweise gestalten sich ihre Einflüsse auf das fertige Produkt überschaubar – wo Austra drauf steht, ist immer noch Austra drin. So breitet sich direkt beim Opener "Anywayz" ein wohliges Gefühl der Vertrautheit aus, wenn sich die ausladende Stimme der ausgebildeten Opernsängerin mit organischer Percussion und Synthie-Pianos zu einem großen Pop-Refrain auftürmt. Thematisch regiert die Sehnsucht nach der abwesenden Geliebten, die auch schon den Über-Hit "Home" bestimmte. Zweifel kommen auf, doch analog zu den politischen Utopien der Vorgänger-Platte besteht noch Hoffnung auf eine gemeinsame Zukunft.

Doch nur einen Song später macht Stelmanis Nägel mit Köpfen. "It doesn't matter if you're sorry now / 'Cause I'm leaving tomorrow / You fucked it up", heißt es in "All I wanted", das mit zarter Streicher-Begleitung subtil und niedergeschlagen daherkommt. Damit bildet der Track eine Ausnahme auf der Platte. Als sei Austra dieses Mal komplett von ihrer Namensvetterin, der lettischen Göttin des Lichts, besessen, strahlt "HiRUDiN" besonders hell – und zwar nicht mit clubtauglichem Stroboskop, sondern mit einem warmen, heilenden Gleißen, das die kathartische Trauma-Bewältigung auch akustisch abbildet. Dass der Gothic höchstens noch in Überresten am Gesang klebt und die Tracks in einer geschmackvolleren Parallelwelt auch im Radio laufen könnten, ist keineswegs negativ zu verstehen. Bei Mega-Hooks wie der von "How did you know?" dürften alle Electropop-Freunde Luftsprünge machen, dazu verhindern die unkonventionellen, detaillierten Arrangements immerzu ein Abkippen ins Banale.

Wirkte Stelmanis auf "Future politics" zuweilen seltsam teilnahmslos, schmettert sie hier ihren Frust mit voller Inbrunst von der Seele. Das majestätische "It's amazing" schüttelt alle festgesaugten Schmarotzer ab und wächst von elaboriertem Getrommel begleitet bis in die Stratosphäre. Mit dem neuen Selbstbewusstsein fügen sich auch befremdlich wirkende Momente wie die Chipmunk-Stimme in "Risk it" oder der Kinderchor von "Mountain baby" problemlos in den Fluss. "I am not waiting" erinnert gar an das Über-Meisterwerk "Olympia", baut mit einem arschcoolen Synth-Bass wunderbar Spannung auf, um im glitzernden Refrain immer wieder "I'm over you" zu konstatieren – es ist einer von Austras allerbesten Songs überhaupt. Stelmanis mag die Injektion ihres "HiRUDiN" in erster Linie selbst gebraucht haben, doch ist dieses musikalische Stärkungsmittel definitiv allgemeinbekömmlich. Würden biologische Trivia-Fakten immer so viel Spaß machen, könnte man sich vor Egel-ExpertInnen kaum noch retten.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • How did you know?
  • It's amazing
  • I am not waiting

Tracklist

  1. Anywayz
  2. All I wanted
  3. How did you know?
  4. Your family
  5. Risk it
  6. Interlude i
  7. It's amazing
  8. Mountain baby (feat. Cecile Believe)
  9. I am not waiting
  10. Interlude ii
  11. Messiah
Gesamtspielzeit: 33:50 min

Im Forum kommentieren

Autotomate

2021-05-07 20:27:32

Austra just released I Feel You Everywhere, check it out here (bandcamp).

The mixed and mastered audio taken from I FEEL YOU EVERYWHERE: Austra's Solo Acoustic Performance at Roy Thomson Hall.

Available to purchase for one weekend only.
released May 7, 2021

Autotomate

2020-05-09 17:01:33

Puh, das Album ist voller Ohrwürmer, ich muss das gerade dauernd hören. Wenn ich diese Musik mit einem einzigen Attribut beschreiben sollte, wäre das "lieb". ;)

Autotomate

2020-05-03 17:17:17

Es hat mich etwas Zeit und Gleichmut gekostet, die schlagerhafte Geste im Refrain des Openers, das Heliumgepiepse von "Risk It" und noch einige andere kleinere Irritationen zu überwinden, aber ich höre das Album inzwischen auch ziemlich gern. "Feel it Break" bleibt aber unantastbar.

Edrol

2020-05-03 16:13:05

Hab schon ausgiebig reingehört seit Freitag und kann nur zustimmen - ein wundervolles Popalbum! "Anywayz" ist weiterhin der Knaller und daher der optimale Opener für das Album. Ähnlich toll geht es weiter; dank der Kürze des Albums schleichen sich auch keine Filler ein (abgesehen von diesen kleinen und ziemlich überflüssigen Interludes, die ich allerdings kaum wahrnehme). Ich hätte stattdessen lieber noch 2 richtige Songs mehr gehabt, aber was soll's. Und ja: "How Did You Know?" ist Elektro-Pop ist Perfektion - ein Traum. Die Melodie von "Mountain Baby" will mir derweil gar nicht mehr aus dem Kopf gehen.
Entwickelt sich gerade zu meinem Lieblingsalbum von Austra, und das will was heißen. Deswegen gibt's von mir auch 8/10; hoffentlich legt sich die Anfangseuphorie nicht bald wieder.

musie

2020-05-03 15:55:39

Eins der besseren Alben dieses Jahres! Bin mich gerade am Reinhören. Keine Ausfälle... Für mich eine positive Überraschung..

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