Real Estate - The main thing

Domino / GoodToGo
VÖ: 28.02.2020
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

Eingesackt

Kennt Ihr diese Sitzsäcke, in denen man so tief versinkt, dass man nur mit Beihilfe eines freundlichen Lastkranfahrers wieder aufstehen kann? Wenige ähnlich einfach zugängliche Orte eignen sich so gut, um die Musik von Real Estate zu genießen. Vor allem dann, wenn Kollege Bremmer wie schon zu "In mind"-Zeiten den redaktionsinternen Whirlpool blockiert – schließlich sind unsere großräumigen Einzelbüros alle nebst Luxus-Hi-fi-Anlage und Armin-Porträts auch mit den Marktführern der Sitzsack-Industrie ausgestattet. Doch eigentlich braucht es gar kein unterstützendes Mobiliar, weil die New Yorker Band ihre akustischen Entspannungspolster immer noch selbst produziert. Da kann der Rezensent hier den Putz von der Wand erzählen, wie Real Estate auf "The main thing" vielleicht so ambitioniert wie nie zu Werke gehen, mehr Groove und Zug als auf dem Vorgänger entwickeln: Natürlich hat sich das grundlegende Wesen ihrer Musik wenig verändert.

Doch gerade zu Beginn liefern Martin Courtney und Co. das, was man am allerwenigsten auf einem Real-Estate-Album erwartet: Überraschungen."Friday" baut sich mit verheißungsvollen Keyboard-Anschlägen und stolzierendem Bass gravitätisch auf, bis er in einem stickigen Nebel aus Gitarren und Synthies wieder zusammenfällt. Es ist ein dichter, drückender Song, der im Kontrast zur sonstigen Luftigkeit des Fünfers steht, aber trotzdem funktioniert. Die Single "Paper cup" erstaunt ebenso mit Disco-Streichern, verspieltem Rhythmus und Gastgesang von Amelia Meath (Sylvan Esso). Auch hier glückt das Experiment, der Song kombiniert seine Elemente zur sehnsüchtigen Hymne zwischen Tropensonne und Großstadtmelancholie. Sogar der felsenfest geglaubte sedative Grundton gerät in "Also a but" ins Wanken. Gitarrist Julian Lynch verdient sich hier seine Sporen als Songwriter, indem er die Psychedelik des Openers wieder aufgreift, unheilvolle Disharmonien und dringliche Drums erklingen lässt.

Abseits dieser Ausnahme bleibt die Band dem Kern ihres beruhigenden Jangle- und Dreampop treu, womit ihre Wagnisse stets auf einem stabilen Grundgerüst bauen. "The main thing" ist ein idealer Stresslöser, der dank der Variationen in Tempo und Arrangements entspannt, aber nicht ermüdet. Glücklicherweise haben die Jungs dieses Mal auch keinen nichtssagenden Siebenminüter à la "Two arrows" im Gepäck, der Aufblähung mit Ambition verwechselte. Dass in der Kürze die Würze liegt, beweisen "November" und der Titeltrack: zwei der kürzesten, aber auch besten Songs des Albums, ein herrliches Duo lockerer, frühlingshafter College-Rocker. "You" entwickelt zwar keinen ähnlichen Zug, passt mit seiner Zuckerwattigkeit aber perfekt dazu, wie honigsüß sich Courtney hier an seine Kinder wendet. Die musikalische Verarbeitung der eigenen Vaterschaft hätte wahrlich schlechter ausfallen können.

Ist Real Estate also ein ganz großer Wurf gelungen, der mit einem Meisterwerk wie "Days" mithalten kann? Nicht ganz. Ein paar Songs wie "Falling down" oder "Procession" machen es sich als keinesfalls schlechte, aber etwas redundante Band-Standards eine Spur zu bequem. Dazu gibt es zwei eher unnötige Instrumentals und den kleinen Hang zur Überlänge hat das Quintett noch nicht vollständig abgelegt. Das ist natürlich alles Meckern auf hohem Niveau – allerspätestens, wenn "Silent world" kurz vor Schluss zur großen Streicher-Geste ausholt und als stilvolle Ballade frühere Country-Schunkeleien vergessen lässt, hat man sich aufs Neue in die Band verliebt. Dementsprechend folgt hier noch ein abschließender Warnhinweis, weil uns von Plattentests.de das körperliche Wohl unserer Leserschaft noch vor deren Geschmackssicherheit am Herzen liegt: Wer "The main thing" tief versunken im Lieblings-Sitzsack genießt, wird vielleicht nie wieder aufstehen können.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Paper cup (feat. Sylvan Esso)
  • November
  • The main thing
  • Silent world

Tracklist

  1. Friday
  2. Paper cup (feat. Sylvan Esso)
  3. Gone
  4. You
  5. November
  6. Falling down
  7. Also a but
  8. The main thing
  9. Shallow sun
  10. Sting
  11. Silent world
  12. Procession
  13. Brother
Gesamtspielzeit: 48:50 min

Im Forum kommentieren

Hoschi

2021-02-25 13:28:23

Real Estate ? Neue EP zum Frühling ?
Immer her damit ! Beste Jahreszeit für die Band ein Album/EP zu veröffentlichen.
Main thing war super.

jo

2021-02-25 12:05:51

Ich dachte, sie wären nicht unveröffentlicht, sondern einfach noch nicht fertig gewesen. Sie wurden während der Pandemie im Datei-Hin-und-Hersenden-Verfahren fertiggestellt, da sie ja nicht touren konnten. So hatte ich es verstanden.

Aber sonst gebe ich dir natürlich Recht - immer noch ein sehr schönes Album. Und "Half a Human" würde auch super drauf passen. Bin auf die restlichen Songs gespannt. Ist ein klarer Pre-Order-Kandidat :).

Gordon Fraser

2021-02-25 01:13:05

Wird mit der "Half a Human"-EP im März einen Nachschlag mit unveröffentlichten Songs aus den Main-Thing-Sessions geben:

01 Desire Path
02 Half a Human
03 Soon
04 D+
05 In the Garden
06 Ribbon

Super Nachricht, höre das Album immer noch gerne.

jo

2020-05-25 20:44:52

@carpi:

Ja, ging mir auch so, dass es knapp länger brauchte (von einigen Songs abgesehen). Einerseits war das bei Real Estate bei mir zwar schon immer so, andererseits liegt es hier aber durchaus auch an den subtileren Songs.

@Obrac:

Ja, weil er der Schreiber des Songs war, habe ich Lynch auch noch mal erwähnen müssen. Stimme auch zu, dass eine Mischung aus den beiden Soloprojekten (minimal das von Bleeker noch eingestreut) den Sound der Band im Moment gut beschreibt. Finde ich aber auf jeden Fall gut so. Wären sie nur im Milieu von "Days" geblieben, wäre die Band nicht so interessant, wie sie es letztlich doch wurde.

Obrac

2020-05-25 20:26:17

Doch, der ist auch sehr stark. Lynch hat den Sound der Band zwar etwas geändert (man höre nur seine Soloalben), aber dadurch sind sie viel variabler geworden.

Auf jeden Fall. Er hat ja auch den Song geschrieben, was man auch deutlich hört. Sie klingen mittlerweile schon wie ein Mittelding aus den Solosachen von Lynch und Courtney.

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