Poliça - When we stay alive

Memphis Industries / Indigo
VÖ: 31.01.2020
Unsere Bewertung: 7/10
7/10
Eure Ø-Bewertung: 8/10
8/10

Wolken aus Beton

Kennt man die Vorgeschichte zu Poliças viertem Album "When we stay alive", trägt sein Titel ein bitteres Programm. Anfang 2018 stürzte Frontfrau Channy Leaneagh vom Dach ihres Hauses, erlitt teils schwere Verletzungen an der Wirbelsäule, kam damit aber zum Glück relativ glimpflich davon. Ganz die Künstlerin zog Leaneagh Inspiration und Hoffnung aus ihrem Unfall: Ans Bett gefesselt stieß sie ihr Kopfkino an, stellte sich grüne Naturidylle vor und schrieb sogar ihren Sturz um, indem sie in Gedanken auf eine Wolke statt auf Betonboden fiel. Dieses enge Verhältnis zwischen ihrer Verletzung und der im Anschluss entfesselten Heilungskraft spiegelt sich in der noch immer herrlich ambigen Musik von Poliça wider. Wie auf den drei Vorgängern verbinden sie elektronische Kälte mit einer subtilen, aber immer spürbaren Wärme in Form von Leaneaghs Stimme und Melodien. Der amerikanische Fünfer gehört weiterhin zu den spannendsten Vertretern des modernen Electro-Pop, weil er den um eingeengte Assoziationen kreisenden Begriff kontrastreich auflädt und erweitert.

Der mysteriöse Opener "Driving" absorbiert zunächst noch alle Lichtstrahlen. Das Soundbild brodelt unheimlich und erdrückend, "shit" und "vomit" fallen als Schlagwörter in düsteren Abstraktionen um Verfall und Ekel – einzig der sehr lebendige Bass scheint sich dem Verderben entgegenzustellen. "When we stay alive" pulsiert dunkel und unheimlich, weiß seinen fest zupackenden Griff aber immer wieder aufzulockern. "Be again" greift die akustische Vorhölle später wieder auf und breitet sie in einer fünfminütigen Ödnis-Bohrung aus. Leaneaghs sonst klarer, sich an bekömmlicher R'n'B-Ästhetik orientierender Gesang verwandelt sich hier in verzerrte, flehende Beschwörungen, die gar einer Chelsea Wolfe ähneln. Im krassen Kontrast dazu steht der schillernde Pop von "Forget me now" mit seinen stampfenden Drums und dem überlebensgroßen Refrain. Doch auch hier verbirgt sich hinter dem Funkeln das Unglück, in diesem Fall eine gescheiterte Liebe: "What about me makes you lie / Right into my face / ... / Make it up to me someday / No, I'm gone." Im dynamischen Zusammenspiel unterschiedlicher Stimmungen, das sich mit variabel eingesetzten Synthies auch musikalisch stets niederschlägt, liegt weiterhin die größte Stärke von Poliça. Ihre Kompositionen bleiben dabei immer griffig genug, um sich in den atmosphärischen Verzweigungen nie zu verlieren.

Man sollte natürlich nicht allzu krampfhaft nach einer Verbindung zwischen Künstlerin und Kunst suchen, doch für den unwissenden Außenstehenden scheint der Brückenschlag zwischen Leaneaghs Erfahrungswelt und ihrer Musik ganz simpel – schließlich erlebte sie nicht nur eine Annäherung des Todes, sondern als mehrfache Mutter auch das Lebenswunder in seiner reinsten Ausdrucksform. Doch ihre Texte bleiben zu kryptisch, um sie an Konkretes zu koppeln, behandeln viel universeller das Spannungsverhältnis zwischen Hoffnung und Pessimismus in einer immer unruhiger werdenden Welt. Bezeichnenderweise wendet sich "When we stay alive" so oft ins Helle wie kein anderes Album der Band. Vor allem "Feel life" gerät als eine ihrer schönsten Balladen unheimlich nahbar, während in "Steady" sogar eine Akustikgitarre klimpert. Als bester Song stellt sich allerdings "Fold up" heraus: Der treibt sich zwar wieder im Schatten herum und hat auch ein paar Noise-Sägen dabei, doch ist er in seiner intensiven Dringlichkeit kein Statement der Verzweiflung, sondern der Bewegung. Man vergisst es im Verlauf der Platte fast, aber zu elektronischer Musik soll man ja auch mal tanzen können. Poliça haben natürlich auch daran gedacht.

(Marvin Tyczkowski)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Fold up
  • Feel life
  • Forget me now

Tracklist

  1. Driving
  2. TATA
  3. Fold up
  4. Feel life
  5. Little threads
  6. Be again
  7. Steady
  8. Forget me now
  9. Blood moon
  10. Sea without blue
Gesamtspielzeit: 38:21 min

Im Forum kommentieren

AndreasM

2020-02-24 11:33:51

Das Problem, das Voyage 34 beschreibt, habe ich inzwischen leider auch. Die ersten beiden Alben fand ich super, aber seit dem wurde viel wiederholt und irgendwie ist auch die Intensität der früheren Alben nicht mehr erreicht wurden. Ich habe sie letzte Woche mit dem neuen Album live gesehen und da ist mir das , leider wie auch schon beim letzten Konzert, aufgefallen. Denn leider werden so auch die Konzerten deutlich gleichförmiger und weniger interessant.

Voyage 34

2020-02-14 19:03:50

Nettes Album, gefällt mir bisher auch ganz gut, obwohl ich mal wieder das Problem habe dass mir die Songs auf Albumlänge einfach zu ähnlich sind.

Autotomate

2020-02-14 17:39:34

Hab gerade zufällig "Driving" gehört und war gleich ziemlich verliebt in den Song. Wenn der Rest des Albums auch so gut ist, wäre das schon mein zweites Highlight dieses Jahr.

Armin

2020-01-27 20:47:17- Newsbeitrag

Frisch rezensiert.

Meinungen?

Armin

2020-01-15 20:21:21- Newsbeitrag

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