Schrottgrenze - Alles zerpflücken
Tapete / IndigoVÖ: 18.10.2019
Malt es mit Edding an die Wände
"Schämen sollten Sie sich!", oder auch "Traurig, diese Männer von heute": Diese und ähnliche Nasenrümpfer mit Früher-war-alles-besser-Bezug sind gewöhnliche Reaktionen, mit denen Saskia Laveaux alias Alex Tsitsigias, so heißt der Schrottgrenze-Sänger bürgerlich, täglich zu tun hat. Selbst wenn man beim 30. Male nicht mehr hinhört, fast abstumpft, so sollte das nicht egal sein: Traditionalisten und Moralisten der alten Schule zeigen mit Anfeindungen und Drohungen immer harscher und lauter, dass sie Fortschritt und Freiheit nur dulden, wenn sie die Grenzen selbst definieren. Mit "Glitzer auf Beton" öffnete Laveaux nach ihrem späten Coming-Out ein neues Kapitel. Die erste Schrottgrenze-Platte nach sieben Jahren Pause war nicht nur ein Comeback, denn in ihrer absoluten Konsequenz queere Themen zu bringen, besetzten Schrottgrenze fortan eine Lücke in der deutschen Indierock-Szene.
"Alles zerpflücken" unterstreicht die Aussagen des Vorgängers mit dickster Edding-Breitseite. Es werden Fragen gestellt, die etwa im Formatradio gänzlich fehlen. Fragen nach kritischer Männlichkeit, nach neuen Geschlechterrollen. Wie sehr Laveaux selbst in der queeren Welt aufgeht, hört man dem leicht Offbeat-infizierten, fröhlichen "Morice" an. Und ob des Zungenschlags muss niemand spekulieren, ob der Besungene ein Liebhaber Laveaux' sein könnte – vielleicht ja der "Januar Boy*" von "Glitzer auf Beton"? Doch während die Frontfrau bei Konservativen als politische Figur gilt, wie der schnörkellose und verdammt eingängige Opener "Life is queer" thematisiert, sieht Laveaux sich als völlig normale Person, die für ihr Recht kämpft: Für Gleichberechtigung und sexuelle Freiheit, für "eine Welt, in der man ohne Angst einfach verschieden sein kann."
Doch die Gegenwart sieht anders aus. Das beinahe wütende "Räume" zeigt eindrücklich, dass das raue Klima bereits wirkt. "Und meine scheiß Angst ist real / Meine scheiß Angst ist brutal!" konstatieren Schrottgrenze unmissverständlich und grundehrlich. Die feine Single "Traurige Träume" legt nach in Richtung streng-christlicher Zeigefinger-Heber und ethnischer Ausgrenzer: "Ich beobachte schon lang / Wie der Humanismus hier zerfällt / Und wenn diese Welt dann zusammenfällt / Hilft Dir kein Beten / Und auch kein Nach-unten-Treten." Mit Blick über den Horizont hinaus lassen Schrottgrenze besagten Track von der Berliner Rapperin Sookee verzieren – deren Kehlkopf-Reibeisen übrigens wunderbar zur Musik passt. Trotz all der hypermelodischen Power-Pop-Stücke, tanzbaren Indie-Rocker oder launigen The-Clash-Reminiszenzen wie im Titelsong, zeichnen Schrottgrenze auf "Alles zerpflücken" ein bescheidenes, realistisches Bild der aktuellen Gesellschaft, in welcher die Akzeptanz von Nicht-Heteros oder tatsächliche Geschlechtervielfalt noch sehr lang eine Utopie bleiben wird. Auch deshalb suchen Schrottgrenze in fast schon melancholischer Resignation die "Solidarity city".
Mit den Politpunks Slime sind Schrottgrenze nicht nur befreundet, sondern verweisen klar auf ihre musikalische Verwurzelung. So knöpft man sich gemeinsam den 40 Jahre alten Slime-Klassiker "Das Kapital" vor. Ein Song, der auch 2019 aktuell scheint, denn schließlich hängen gesellschaftliche Missstände und der alles zerfressende Neid mit sozialen Verwerfungen zusammen – und nicht zuletzt mit einem auf endlosen Wachstum und Konsum basierenden "Friss oder Stirb"-Wirtschaftsmodell. Aktuell beobachten wir mit Sorge die Verrohung der Sprache, den Hass im Netz, Anfeindungen gegen subkulturelle Einrichtungen, gegen sexuelle Freiräume und gegen angeblich "kulturfremde" Kunst. Genug Stoff für neue, sehr gute Schrottgrenze-Songs.
Highlights & Tracklist
Highlights
- Life is queer
- Traurige Träume
- Solidarity city
- Räume
Tracklist
- Life is queer
- Traurige Träume
- Alles zerpflücken
- Sog
- Morice
- Solidarity city
- Toter Kuss
- Räume
- Das Kapital
- Nachglühen
Im Forum kommentieren
FinanzGuru
2023-08-04 19:09:24
Sehr enttäuschendes Album. Der Vorgänger waren noch so toll, aber außer den annehmbaren 3 Singles und der Collabo mit Slime hat das Album quasi nichts zu bieten.
Der Nachfolger (erschien heuer) ist leider auch nicht besser.
Wirkt so, als würde Songschreiberin Saskia all ihre Energie in ihre texte investieren und darüber die zupackenden Melodien vergessen.
4/10
MartinS
2020-01-27 17:54:36
Sehr schön, ich schau mir die heute als Support von Kettcar in Nürnberg an (von mir aus dürften auch Kettcar Schrottgrenze supporten^^).
Bin gespannt.
BadaBing
2020-01-27 16:01:46
Gestern als Support von Kettcar in Düsseldorf gesehen und ich war positiv überrascht.
Vor allem "Traurige Träume" war live äußerst gelungen.
Eurodance Commando
2019-11-21 00:58:40
Das gehört definitiv zu meinen Überraschungen des Jahres. Wie großartig doch diese Singles sind. "Traurige Träume" gehört zu den Songs des Jahres, ganz toll.
Analog Kid
2019-10-15 23:28:20
Der zockt bestimmt bloß Dark Souls oder Sekiro und hängt bei irgend nem Boss.
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