Niels Frevert - Putzlicht

Grönland / Rough Trade
VÖ: 06.09.2019
Unsere Bewertung: 8/10
8/10
Eure Ø-Bewertung: 7/10
7/10

In vollem Glanz

Gerade schmetterte noch Totos "Africa" aus den Lautsprechern des Clubs. Du zappelst komisch rum, den Arm in die Höhe, den Zeigefinger gen Decke gestreckt und grölst: "I bless the raaaains down in Africa." Und dann plötzlich: Licht an. Wo eben die Discokugel noch bunte Masernpunkte in die Gesichter der Crowd beamte, siehst Du jetzt Halogen in hässlichen Fratzen. Autsch. Aber auch gut so, eigentlich. Du solltest nach Hause gehen, es ist immerhin 6 Uhr in der Früh. Der Tag, den Du jetzt noch "morgen" nennst, ist eh schon im Arsch. Als Du hinaus wankst, läufst Du an einer Person vorbei, die Du schon mal irgendwo gesehen hast. Du grüßt, Niels Frevert grüßt zurück, auch wenn er wahrscheinlich keine Ahnung hat, wer Du bist. So oder so ähnlich geschehen im Uebel & Gefährlich in Hamburg. Nicht nur einmal. Der frühere Nationalgalerie-Mann ist ein Spezialist für Party-Endszenarien. Mit dem Titel seiner neuen Platte "Putzlicht" umschreibt er jenen Augenblick, wenn in der Disco die Lampen angehen.

Der Titelsong ist gleichzeitig das größte Highlight auf dem sechsten Soloalbum des 52-Jährigen. Der Track erzählt die obenstehende Geschichte aus Sicht des Heimgehenden – ohne Toto und in Freverts Worten. Zahllose Male haben die Nachbarn des Rezensenten ihn in den vergangenen Wochen mitgrölen hören: "Schein herab auf mich!" Ein fantastischer Singalong – und ingesamt ein großer Ohrwurm zwischen Piano-Thema, sanften Bläsern und großartigen Drums. Letztere prägen das gesamte Album. Schon in "Immer noch die Musik", dem ersten Titel nach dem Prelude: So wie in dieser Zweitauskopplung muss eine Snare klingen! Auch hervorzuheben ist die Gitarren-Performance, die sich in mehreren, toll aufeinander abgestimmten Layern durch den Track schlängelt. Das Stück besingt – zugegebenermaßen an der Grenze zum Kitsch – die haltgebende Wirkung von Musik in dunklen Zeiten. Aber hey, nur ihretwegen schreibt einer diesen Text hier und jemand anderes liest ihn. Es folgt der etwas sperrige Titel "Ich suchte nach Worten für etwas, das nicht an der Straße der Worte lag". Die Drums nähern sich hier zunächst gedämpft, sprengen dann aber nach etwa 30 Sekunden spektakulär ihre Fesseln: stark! Ein paar Synthies machen Stimmung, Frevert versucht sein Gefühl zu beschreiben und scheitert im Sinne der Titelzeile. Wieder entern herrliche Gitarren das Geschehen – teilweise hintergründig oszillierend, teilweise keck nach vorne drängend verhelfen sie dem Song zu seiner fortwährenden Spannungssteigerung.

Auch die erste Single "Leguane" macht großen Spaß und gliedert sich nahtlos in den beschriebenen Sound der Platte ein. Eine brummend verzerrte Elektrische spendiert dem Titel sein melodiöses Hauptthema und verleiht ihm seine ausführlichen Instrumental-Teile. Bester Satz auf "Putzlicht" indes: "Ich sah einen Ton-Steine-Scherben-Aufkleber auf einem SUV" aus "Brückengeländer", das mit einem Beat in Classic-Rock-Manier daherkommt, die Saiten aber nach Indie-Art aufspielen lässt. Im Chorus übernehmen Streicher das instrumentale Setting und unterstützen Freverts tragischen Ausdruck. Ganz untragisch hingegen präsentiert sich "Wind in Deinem Haar", das sich bewusst anschickt, das Schöne zu suchen und zu finden. Der Track mäandert durch sonnige Landschaften, während das Piano und die Gitarre freudvoll klimpern. Alles gipfelt in der, von "Uh-uhhh"-Chören umschwungenen Feststellung: "Ich seh' keine dunklen Wolken mehr." Dabei liegt doch gerade im Nicht-Fehlerlosen so viel Bestaunenswertes: In "Als könnte man die Sterne berühren" bekommt der Sänger von einer Wahrsagerin zwischen kraftspendenden Trompeten eine Weisheit auf den Weg: "Man wird für seine Stärken bewundert, aber geliebt wird man für seine Schwächen." Und "Bei laufendem Motor" vollendet die Platte schließlich mit Upbeat, spanischen Gitarren und gefühlvoller Piano-Bridge.

Es gibt keinen einzigen Song auf dieser Platte, der nicht zündet. Das liegt zum einen an Freverts unnachahmlicher Weise, seine Geschichten zu erzählen und mit seiner warmen Stimme vorzutragen, die dabei immer ein bisschen so klingt, wie ein gequältes Lächeln aussieht – und mithin ursympathisch erscheint. Zum anderen aber verfügt "Putzlicht" über diesen großartig verdichteten Band-Sound, der sich mehr zutraut, als den Sänger allein mit einer gezupften Akustischen und vielleicht noch ein paar verstärkenden Streichern ins Rampenlicht zu stellen – so schön das auch ist. Schon auf "Paradies der gefälschten Dinge" ging es mehr in diese Richtung, nun jedoch wurden die letzten störenden Falten rausgebügelt. Das dürfte größtenteils der Verdienst des Produzenten Philipp Steinke sein, der mit Mark Forsters "Liebe" am vielleicht schlechtesten Album 2018 mitwirkte, aber eben auch haargenau weiß, wie man Popmusik perfekt in Szene setzt. Frevert hatte früher schon die ganz großen Melodien am Start – man denke z.B. an "Der Typ, der nie übt (Worum es eigentlich geht)" vom 2008er "Du kannst mich an der Ecke rauslassen" – doch auf "Putzlicht" erstrahlen sie nunmehr in vollem Glanz.

(Pascal Bremmer)

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Highlights & Tracklist

Highlights

  • Immer noch die Musik
  • Ich suchte nach Worten für etwas, das nicht an der Straße der Worte lag
  • Putzlicht
  • Brückengeländer

Tracklist

  1. Bei laufendem Motor (Prelude)
  2. Immer noch die Musik
  3. Ich suchte nach Worten für etwas, das nicht an der Straße der Worte lag
  4. Als könnte man die Sterne berühren
  5. Leguane
  6. Putzlicht
  7. Wind in Deinem Haar
  8. Brückengeländer
  9. Nie mehr wie vorher
  10. Dieser Moment
  11. Bei laufendem Motor
Gesamtspielzeit: 41:35 min

Im Forum kommentieren

pai-mei

2019-12-13 19:07:20

PUTZLICHT TOUR 2020

03.04. Gummersbach @halle_32
04.04. Geislingen @Rätsche
15.04. Düsseldorf @zakk_duesseldorf
16.04. Saarbrücken @Garage
17.04. Schorndorf @clubmanufaktur
18.04. Stade @hansesongfestival
03.05. Dortmund @fzwdo
04.05. Wiesbaden @schlachthof_wiesbaden
05.05. Zürich @Bogen F
06.05. Konstanz @kulakonstanz
07.05. Karlsruhe @jubez.karlsruhe
08.05. Erlangen @ewerk_erlangen
09.05. Potsdam @waschhauspotsdam

jo

2019-12-09 14:42:45

Stimmt - er macht den Merch-Stand ;). Den Spoiler hatte ich ganz vergessen :).

pai-mei

2019-12-09 08:51:28

@jo: ich sehe das genauso wie Du. "Paradies..." hat teilweise richtig starke Songs und gefällt mir als Album sehr gut. Für mich fallen im Vergleich zum Rest lediglich UFO und Muscheln etwas ab. Der Rest hat Topniveau. Vor allem Morgen ist egal, Speisewagen und die Abbiegung sind meine Lieblingssong auf dem Album.

Ich war am Samstag in Hannover und bin immer noch begeistert. Ein super entspanntes Konzert und die Setlist der Tour ist 1A. Das war mein insgesamt fünftes Niels Frevert Konzert in diesem Jahr und nächstes Jahr geht es weiter. Für die ersten Termine werden bereits Karten verkauft (Gummersbach, Düsseldorf, Saarbrücken und Schorndorf).

Ich kann jedem nur empfehlen mal hinzugehen. Das ist live nochmal eine ganze Ecke besser als auf Platte und Niels steht nach jeder Show für einen netten Plausch bereit.

jo

2019-12-08 15:43:06

Sehe gerade die letzte keineswegs als schwächer an. Finde sogar, dass er so gute Songs wie auf "Paradies..." (zuvor) noch nie geschrieben hatte. Hilft natürlich nichts, wenn es nicht den eigenen Geschmack trifft, aber für mich hat es mindestens die gleiche Klasse wie die tolle aktuelle und "Du kannst...". "Zettel auf dem Boden" fiel wirklich etwas ab, hat aber - wie ich nach weiteren Hördurchgängen diese Woche erst wieder feststellen musste - durchaus auch sehr tolle Songs zu bieten.

Obrac

2019-12-07 19:22:31

Für mich auch ein Jahreshighlight. Hätte ich so nicht erwartet nach eher schwächeren zwei Alben. Mit Abstand seine Beste seit "Du kannst mich...". Top 5 auch bei mir dieses Jahr.

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